Als Emmanuel Macron am Sonntag um kurz nach 22 Uhr vor seine Anhänger trat, brachte er seine Ehefrau Brigitte Trogneux mit auf die Bühne. Die Geste ist für französische Wahlsieger so ungewöhnlich, dass Kommentatoren sie sofort als „amerikanisch“ klassifizierten. So sei er eben dieser 39-jährige Shootingstar, der in nur einem Jahr eine neue Partei aufbaute, den lange Zeit völlig unrealistisch geglaubten Aufstieg zum Präsidentschaftsanwärter schaffte und nun mit so einigem aufräumen will, was man in Frankreich gemeinhin das „System“ nennt. Doch niemand soll sich täuschen: Es liegt ein schwieriger Weg vor ihm, sollte er am 7. Mai tatsächlich die Stichwahl um das höchste Staatsamt gegen die Kandidatin der Rechtsextremen, Marine Le Pen gewinnen.
Das liegt weniger an der Tatsache, dass sich nur Minuten nach Bekanntgabe der ersten Prognosen am Sonntagabend zahlreiche Politiker des linken und rechten Parteienspektrums - also genau jene, die seit Jahrzehnten zu dem kritisierten „System“ zählen - auf seine Seite schlugen.
Sie könnte durchaus wieder funktionieren, diese so genannte republikanische Front, mit deren Hilfe Kandidaten der rechtsextremen Front National bei vergangenen Wahlen von hohen politischen Ämtern fern gehalten wurden. Laut einer Blitzumfrage kann Macron in zwei Wochen mit 62 Prozent der Stimmen rechnen, le Pen mit 38 Prozent.
Als viel größeres Handicap wird sich für den EU-freundlichen Kandidaten erweisen, dass mehr als 50 Prozent der Franzosen in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl für Kandidaten stimmten, die der EU in ihrer heutigen Form skeptisch gegenüber stehen. Nicht nur le Pen sprach sich im Wahlkampf für einen Ausstieg aus der EU und dem Euro aus und kam letztlich auf 21,7 Prozent. Das ist weniger, als sie sich erhofft hatte - aber dennoch das beste Ergebnis, das der FN jemals verzeichnete. Das Resultat steht für sieben Millionen Franzosen. Jean-Luc Mélenchon, der als Präsident eines „aufsässigen Frankreich“ hart jeden einzelnen der EU-Verträge neu verhandeln und Frankreich im Falle eines Misslingens aus der EU lösen wollte, brachte es auf knapp 20 Prozent. Auch mehrere kleine der insgesamt elf Präsidentschaftskandidaten verfolgten EU-feindliche Ziele.
Ein „Weiter so“ wird also auch für den EU-freundlichen Macron nicht möglich sein, wenn er die Wähler hinter sich versammeln will. In zwei Wochen bei der Stichwahl, aber auch im Juni bei der Parlamentswahl. Denn einem Präsident ohne Mehrheit im Abgeordnetenhaus sind die Hände gebunden. „Deshalb verstehe ich nicht, wieso Macron in Deutschland wie ein Heilsbringer angesehen wird,“ kritisiert zum Beispiel Claire Demesmay, Frankreich-Expertin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.
Macrons Kritik von voriger Woche an der „unerträglichen“ Handelsbilanzüberschüssen Deutschlands war bereits ein Hilferuf an die Bundesregierung. Er forderte einen Ausgleich, ohne sofort Details zu liefern, wie dieser Ausgleich aussehen könnte. Mehr öffentliche Investitionen in Schulen, Kindergärten, Autobahnen und Breitband-Internetverbindungen wären vermutlich eine Maßnahme, zu der sich Berlin noch am ehesten bereit erklären könnte. Dass es in diesen Bereichen bisher an Geld fehlt, kritisieren Ökonomen seit Jahren. Würde die Binnenwirtschaft durch derartige Investitionen gestärkt und die Wirtschaft damit wachsen, gäben die Deutschen automatisch mehr Geld aus und ließen in der Folge auch die Importe aus anderen Ländern steigen. Der Exportüberschuss würde sinken. So jedenfalls die Hoffnung.
Klar ist: Wenn Macron Erfolg haben soll, dann wird es ohne die Unterstützung aus Berlin nicht gehen. Es ist nicht so, dass die Franzosen schon morgen jubelnd Euro und EU den Rücken kehren würden. Vielmehr wünschen sie sich Änderungen in einem starren und dem Gefühl nach zu deutschen Gunsten etablierten System. „58 Prozent sind Immobilieneigentümer. „Es ist schwer vorstellbar, dass sie für eine Partei stimmen werden, die beides aufgeben will,“ sagt Dominique Reynié, Geschäftsführer des Pariser Think Tanks Fondapol.
Ein Novum: Keine der großen Parteien schaffte es in die Stichwahl
Das würde erklären, warum sie es am Sonntag nicht zum äußersten kommen ließen. Für den Fall eines Einzugs in die Stichwahl von Le Pen und Mélenchon hatten Experten eine massive Kapitalflucht befürchtet. Laut Reynié trugen solche Ängste in den vergangenen Wochen auch dazu bei, dass Le Pen ihren Anti-EU-Kurs abschwächte und die Entscheidung über einen Ausstieg nun von einem Referendum etwa ein Jahr nach ihrer Wahl abhängig machen will. „Wenn sie bis zur Stichwahl Anhänger der Konservativen zu sich herüber ziehen will, muss sie auch diesen Vorschlag komplett fallen lassen,“ ist Reynié überzeugt.
Wählerpotenzial für die FN ist bei den konservativen Republikanern durchaus vorhanden. Zwar rief deren Kandidat François Fillon nach Bekanntwerden seiner eigenen Niederlage sofort zur Unterstützung Macrons auf. Allerdings sind vor allem dessen Wähler im Süden des Landes und in erzkatholischen Kreisen eher für den ausländerfeindlichen Teil des FN-Programms zugänglich als für die Botschaft Macrons einer offenen Gesellschaft, in der es nicht die eine französische Kultur gibt. Befragungen zu Folge wollen nur gut ein Drittel der Republikaner-Wähler in zwei Wochen für Macron stimmen.
Ohnehin ist die Zukunft der Republikaner und mehr noch die der französischen Sozialisten nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen ungewiss. Dass keine der beiden großen Parteien, die den vergangenen Jahrzehnten die Politik des Landes bestimmten, es in die Stichwahl schaffte, ist ein für sie schwer zu verkraftendes Novum. Der Kandidat der Sozialisten, Benoit Hamon, kam gerade einmal auf etwas mehr als sechs Prozent der Stimmen.
Enttäuscht über die vergangenen fünf Jahre sozialistischer Regierung unter einem ihrer Meinung nach zu liberalen Staatschef François Hollande wandten sich zahlreiche ehemalige Wähler entweder weiter nach links Mélenchon zu oder Le Pen. Obwohl die FN rechtsextrem ist, verfolgt sie ein linken Wählerinteressen zugeneigtes Wirtschaftsprogramm. Es macht den Staat für das Glück seiner Bürger verantwortlich. Bei der Herabsetzung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre sowie der Erhöhung von Staatsausgaben und niedrigen Löhnen etwa sind die Programme von Le Pen und Mélenchon nahezu deckungsgleich.
Frankreichs Präsident - das mächtigste Staatsoberhaupt
Von allen Staatsoberhäuptern der Europäischen Union hat der französische Präsident die größten Vollmachten. Seine starke Stellung verdankt er der Verfassung der 1958 gegründeten Fünften Republik, ihr erster Präsident war General Charles de Gaulle.
Der Staatschef wird seit 1965 direkt vom Volk gewählt und kann beliebig oft wiedergewählt werden. Seit 2002 beträgt seine Amtszeit noch fünf statt sieben Jahre.
Der Präsident verkündet die Gesetze, kann den Premierminister entlassen und die Nationalversammlung auflösen. In Krisenzeiten kann er den Notstandsartikel 16 anwenden, der ihm nahezu uneingeschränkte Vollmachten gibt.
Der Staatschef ist gegenüber dem Parlament nicht verantwortlich. Durch eine 2007 beschlossene Verfassungsänderung sind Staatschefs im Amt vor Strafverfolgung ausdrücklich geschützt. Das Parlament kann den Präsidenten nur bei schweren Verfehlungen mit Zweidrittelmehrheit absetzen.
Frankreichs Staatschef ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und hat in der Verteidigungs- und Außenpolitik das Sagen. Seine stärksten Druckmittel sind der rote Knopf zum Einsatz von Atomwaffen und das Vetorecht im UN-Sicherheitsrat.
Der Präsident ernennt den Premierminister und auf dessen Vorschlag die übrigen Minister, leitet die wöchentlichen Kabinettssitzungen und nimmt Ernennungen für die wichtigsten Staatsämter vor.
Seine Macht wird jedoch eingeschränkt, wenn der Regierungschef aus einem anderen politischen Lager kommt und der Präsident keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung hat. Dieser Fall der „Kohabitation“ war bei der Verabschiedung der Verfassung nicht vorgesehen. Er trat aber bereits drei Mal ein, zuletzt 1997 bis 2002, als der konservative Staatschef Jacques Chirac mit dem sozialistischen Premierminister Lionel Jospin auskommen musste.
Anders als der Sozialist Hamon, der seine Anhänger bat, für Macron zu stimmen, vermied Mélenchon zunächst ausdrücklich jede Wahlempfehlung. Es ist nicht auszuschließen, dass er die Meinung einiger kleinerer linksgerichteter Kandidaten teilt, die politische Debatte müsse nun auf der Straße ausgetragen werden. Das ließe nicht Gutes für künftige Reformen erwarten.
Macron weiß das nur zu gut. Als er am Sonntagabend vor seine Anhänger trat, schickte er einen Gruß an sämtliche unterlegenen Kandidaten und ließ seine Fans applaudieren. „Danke, das vereint uns,“ sagte er. Er wolle alle Franzosen hinter sich versammeln, denn „die Kraft der Einheit wird entscheiden, wie ich Präsident sein und regieren kann“.