Frankreichs Impferfolg in der Kritik Das französische Impfwunder ist keines

Impfzentrum in Paris.

Staatschef Macron jubelt über Frankreichs hohe Impfquote. Doch als Zaubermittel gegen Impfmüdigkeit taugt das Beispiel der Nachbarn kaum. Ein genauer Blick auf die Zahlen lohnt.

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„Ich habe keine Wahl. Ich muss mich impfen lassen.“ Awa verzieht das Gesicht. Die junge Frau steht in einer kleinen Menschenschlange vor dem „104“ im Pariser Nordosten. Über ihren Köpfen prangt an den hohen Sandsteinwänden des Gebäudes in großen Lettern der Schriftzug „PAS ESSENTIEL“ – das französische Pendant für „nicht systemrelevant“. 2008 hatte die Stadt in dem riesigen Industriebau aus dem 19. Jahrhundert hier an der Hausnummer 104 der Rue d’Aubervilliers ein Kulturzentrum eröffnet.

Aber während der Corona-Pandemie blieb es monatelang geschlossen. In den zwei Hallen, die so groß sind wie die Mittelschiffe mächtiger Kathedralen, und wo sich sonst nachmittags und an den Wochenenden freie Theatergruppen trafen, Skateboard-Artisten Backsides und Heelflips übten oder Tanz-Ensembles ihre Choreographien einstudierten, entstand eines der vielen Corona-Impfzentren der französischen Hauptstadt. Awa wollte nicht herkommen für den Pieks. Aber als sie am Wochenende aus dem Sommerurlaub zurückkehrte, stellte ihr Arbeitgeber sie vor die Wahl, die für sie keine ist: „Entweder ich lasse mich impfen, oder mein Vertrag wird ausgesetzt, und ich kriege kein Gehalt.“

Awa ist Hilfskraft in der Klinik Georges Pompidou. Für medizinisches Personal genauso wie für Pflegende in Heimen und für Feuerwehrleute gilt seit dem 15. September in Frankreich eine Impfpflicht. Es ist eine von mehreren Daumenschrauben, die Staatschef Emmanuel Macron anzog, um Zögernde zu motivieren, Unwillige umzustimmen und so die Impfquote im Land zu erhöhen. Mit Erfolg, wie er am vergangenen Freitag stolz mit einem Video auf Twitter vermeldete: 50 Millionen Franzosen sind nun mindestens einmal geimpft. Das sind mehr als 80 Prozent der Bevölkerung im Alter von über 12 Jahren. „Der Impfstoff rettet Leben, das Virus tötet. So einfach ist das“, beendete Macron sein Video.

Ist also Druck das geeignete Mittel, um eine schleppende Impfkampagne wieder in Gang zu bringen? Während Deutschland darüber diskutiert, schien Frankreich nicht lange zu fackeln. Als Macron am 12. Juli in einer Fernsehansprache die Impfpflicht für bestimmt Berufsgruppen ankündigte und außerdem den Besuch von Kinos, Theatern, Restaurants und selbst Café-Terrassen unter freiem Himmel, den Einkauf in Shopping-Centern und die Fahrt in Fernzügen von einem der „3G“ abhängig machte, schossen die Anmeldungen auf dem Impfportal von Doctolib in die Höhe. Beinahe eine Million Menschen ließ sich noch am selben Abend einen Termin geben.

„Doch, das hat schon geholfen“, meint eine Ärztin, die aus dem Impfzentrum kommt, sich erst einmal eine Zigarette anzündet und dann zu einer nahe gelegenen Brasserie spaziert, um zu Mittag zu essen. „Die Leute wollen sich nicht jedes Mal erst einen Test besorgen, ehe sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.“ Ein älterer Mann kommt die Stufen herunter, ein Pflaster am linken Oberarm, und stimmt der Ärztin zu. „Ich will meine Ruhe haben, deshalb habe ich mich impfen lassen.“ Eine Studentin, die hinter Awa in der Schlange steht, nennt finanzielle Gründe für ihren Gang hierher: „Ich habe gehört, dass die Tests bald kostenpflichtig sein werden. Das kann ich mir nicht leisten. Die Impfung gibt es gratis.“

Die Probe aufs Exempel der vergangenen Tage bestätigt, dass tatsächlich häufig nach dem „Pass Sanitaire“ mit dem Nachweis einer Impfung, Genesung oder Negativtestung gefragt wird. Noch ehe ein Platz auf der Café-Terrasse eingenommen oder die Bestellung für nur einen „Petit Noir“ (Espresso) am Tresen aufgegeben werden kann, wird erst einmal das Handy mit dem nötigen QR-Code gezückt. Die Schramme auf dem Bildschirm ist kein Hindernis. Zum Glück. Auch am Einlass für den Firmenempfang müssen die Geladenen ihren Pass offenlegen. Beim Friseur allerdings ist das ebenso wenig nötig wie bei Maniküre oder Massage. Warum diese körpernahen Dienstleistungen in geschlossenen Räumen ausgenommen sind, weiß der liebe Gott. Oder eben Macron.

Es gibt Zweifel an der Effizienz der Strategie. Da sind einmal die nackten Zahlen. Als Macron das Überschreiten der 50-Millionen-Marke bei den Erstgeimpften verkündete, waren in Deutschland gut 52 Millionen bereits zweimal geimpft. Kritiker werfen dem Staatschef und seinem Gesundheitsminister Olivier Véran vor, vor allem Quote machen zu wollen und darüber Maßnahmen für vulnerable Bevölkerungsgruppen zu vernachlässigen.

„Da die Impfungen bei uns viel schleppender begonnen haben als in vielen anderen Ländern, schien es irgendwann wichtig, Quote zu machen. Einfach, um dem Vergleich stand zu halten“, sagt Eric Billy. Der Virologe und Onkologe aus Straßburg ist Mitglied der Vereinigung kritischer Wissenschaftler „Du Coté de la Science“, die in den vergangenen Wochen etwa auch den mangelnden Schutz von Schulkindern in schlecht gelüfteten Klassenräumen bemängelte. Der Wettlauf vor allem mit dem immer wieder als leuchtendes Beispiel präsentierten Großbritannien sei nicht gewonnen, so Billy. „Bevor man dort die Impfungen für junge Leute frei gab, hat man erst einmal zugesehen, dass ein hoher Prozentsatz der vulnerablen Personen geschützt war.“

Der wissenschaftliche Rat, der die französische Regierung berät, kritisierte ebenfalls schon am 20. August, dass die Zahl der nicht geimpften älteren Menschen „in unserem Land zu hoch ist im Vergleich zu Ländern mit vergleichbarer Gesundheitsinfrastruktur und Demographie“.

Jedes Mal, wenn die Impfbereitschaft der Franzosen nachließ, machte die Regierung die Vakzine rasch für eine neue Gruppe zugänglich. So können in Frankreich die über 12-Jährigen bereits seit Juni geimpft werden – und zwar mit dem Einverständnis nur eines Elternteils. Ab 16 Jahren dürfen Jugendliche für sich selbst entscheiden. Gerade junge Leute motiviert die nötige Vorlage des Gesundheitspasses, weil sie ausgehen und shoppen wollen. Bei älteren Menschen verfehlt dieses Druck- oder auch Lockmittel seine Wirkung.

Das französische Gesundheitsministerium räumt ein, dass Stand 10. September von den 65- bis 69-Jährigen noch elf Prozent keinerlei Impfung erhalten hätten. Bei den über 80-Jährigen sind es demnach 14,6 Prozent. Insgesamt hätten zwei Millionen alte und kranke Menschen nun „höchste Priorität“, betont Minister Véran. In zwei Départements, Seine-Saint-Denis nördlich von Paris und Vaucluse im Osten Frankreichs, würden diese postalisch Einladungen mit einem konkreten Impftermin erhalten sowie Taxigutscheine für die Fahrt zum Impfzentrum und zurück. In Spanien und Belgien hat man mit solchen Maßnahmen gute Erfahrungen gemacht. Außerdem sollen Briefträger die Senioren auf ihre ausstehende Impfung ansprechen, so der Minister. Gerade für ältere Menschen auf dem Land sind französische Postboten tatsächlich oft der wichtigste soziale Kontakt.

Doch das kann nicht darüber hinweg täuschen, dass das „aufsuchende Impfen“, wie es in schönem Behördendeutsch heißt, in Frankreich bisher keine Priorität hatte. Mit Folgen: Die Schneise zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften öffnet sich zwischen Stadt und Land und zwischen reichen und armen Landesteilen. Das legen die Daten der staatlichen Krankenversicherung offen, die der Gesundheitsgeograph Emmanuel Vigneron von der Universität Montpellier ausgewertet hat.

Das Département Seine-Saint-Denis, das im berühmten Fußballstadion Stade de France ein Mega-Impfzentrum beherbergt, gehört dennoch zu den Gegenden mit der niedrigsten Impfquote. Hier leben besonders viele sozial schwache Menschen, oft auch mit Migrationshintergrund. Der Westen Frankreichs ist gut geschützt gegen Corona, der Osten weit weniger. Und die Überseegebiete in der Karibik fallen mit höchstens 36 Prozent Geimpften ab.

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Womöglich ist der Gesundheitspass aber in einigen Landesteilen schon bald wieder Vergangenheit. Die Regierung überlegt, ihn in Gegenden mit niedrigen Inzidenzen überflüssig zu machen. Derweil sind nach offiziellen Angaben 3000 Beschäftigte in der Pflege vom Dienst suspendiert – von insgesamt rund 2,7 Millionen, für die eine Impfung verpflichtend ist. Awa kann jedenfalls bald wieder ihre Arbeit in der Klinik aufnehmen.

Mehr zum Thema: Ab 1. November zahlt der deutsche Staat für die meisten Ungeimpften keine Verdienstausfälle mehr, wenn sie nicht arbeiten können. Dürfen Unternehmen Impfgegnern, die wegen Corona in Quarantäne sind, den Lohn verweigern? Antworten gibt Arbeitsrechtler Bernd Weller von der Kanzlei Heuking Kühn.

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