Freytags-Frage

Brauchen wir mehr Europa?

Seite 2/2

Am Ende könnte die gesamte EU auf der Kippe stehen


In diesem Falle wären die Unterstützungsmaßnahmen und Vergemeinschaftungen von Schulden und Risiken erfolglos und würden die Ungleichgewichte innerhalb der EWU eher verschärfen – sowohl zwischen den Mitgliedsländern als auch innerhalb dieser. Schon jetzt weisen die geldpolitischen Maßnahmen eine Tendenz der Umverteilung von unten nach oben auf und gefährden die Alterssicherung von Millionen Bürgern gerade aus der unteren Einkommens-Mittelschicht.

Auch alle weiteren Sorgen der Kritiker der neuen Vergemeinschaftungs-Ideen basieren weniger auf die fehlende ökonomische Logik als vielmehr auf politökonomische Überlegungen. Dass die Gelpolitik in den Finanzministerien der Mitgliedsländer erfreut zur Kenntnis genommen wird, liegt auf der Hand. Während die Politik kurzfristig denkt, haben die Bürger ihre langfristige Alterssicherung im Blick, die sie nun akut gefährdet sehen.

In allen aktuellen Vorschlägen sind wiederum große Spielräume für verantwortungsloses und zu kurz gedachtes Verhalten angelegt. Es wäre naiv, zu glauben, dass Regierungen diese Spielräume nicht nutzen würden. Sie würden es schon deshalb tun, weil die meisten Menschen eben nicht europäisch denken, sondern sich in erster Linie als Bürger ihres Landes sehen. Deshalb denken sie auch immer die Frage mit, welchen Vorteil das eigene Land beziehungsweise sie selbst aus der Integration ziehen können.

Die größten Netto-Zahler der EU
Touristen in Helsinki Quelle: dapd
Eine Windkraftanlage nahe Dänemark Quelle: dapd
Der Wiener Opernball Quelle: dpa
Da Atomium in Belgien Quelle: REUTERS
Eine Mitarbeiterin in der Schwedischen Botschaft in Minsk Quelle: REUTERS
Frau Antje Quelle: AP
Das Colosseum Quelle: REUTERS


Solange es keine europäische Öffentlichkeit und kein europäisches Bewusstsein gibt, sind sämtliche Versuche, innereuropäische Transfers größeren Ausmaßes vorzunehmen, hoch riskant. Deshalb kann nur davon abgeraten werden, diese Option zu wählen.

Die neue Bundesregierung steht deswegen vor einem Dilemma. Sie sieht sich gleichzeitig französischem und Brüsseler Druck auf Vergemeinschaftung der Fiskalpolitik, nordeuropäischer Angst davor und einer generellen osteuropäischen Europamüdigkeit gegenüber.

Gibt die Bundesregierung dem Druck aus Brüssel und Paris nach, gefährdet sie die Stabilität der Währung und riskiert das Scheitern des Euros. Darüber hinaus gefährdet diese Strategie die politische Stabilität in den Mitgliedsländern. Und sie riskiert das weitere Erstarken der extremen Kräfte, die den Unmut der Bürger soweit schüren, dass am Ende die gesamte EU auf der Kippe stehen könnte.

EU: Wo Deutschlands Nachfrage die meisten Jobs schafft

Es gilt, einen Weg zu finden, die EU wieder zukunftsfähig zu machen, ohne ihre Stabilität zu gefährden. Anders gesagt: Errungenschaften wie die Freiheiten von Verkehr, Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital sind zu wahren.

Die EU war ein Friedensprojekt und konnte mit diesen Freiheiten als vollendet gelten. Die Währungsunion dagegen war weder ökonomisch notwendig, noch scheint sie dem Frieden zu nutzen. Zwingt man die Menschen nun in die nächste Union – die Transfer- und Haftungsunion – könnte das Friedensprojekt seinen Charme endgültig verlieren.

Anstatt die üblichen europafreundlichen Phrasen zu dreschen, sollte die Politik offen an die Diskussion herangehen. Bürger und Politiker müssen ernsthaft über Alternativen nachdenken. Keine Option sollte ausgeschlossen werden – außer das Beharren auf der immer näher zusammenrückenden Union. Dass Politikern wie Martin Schulz, der sein politisches Leben in den europäischen Institutionen verbracht hat und für den selbst ein kluger Rückschritt kein Fortschritt wäre, dies schwer fällt, ist nachvollziehbar. Aber keine Entschuldigung für schlechte Lösungen.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%