All das legt den Verdacht nahe, dass die EZB schon lange nicht mehr Herr ihrer Geldpolitik ist, sondern sich nach den Wünschen der Finanzminister richtet. Ihre Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit scheint unter diesen Bedingungen eher eingeschränkt zu sein. So gesehen wirkt die EZB wie eine machtlose Marionette.
Folgt man dieser Interpretation, kann der Karlsruher Beschluss für die EZB und ihre Leitung nur von Vorteil sein. Dabei gilt folgende Logik. Mit der Kritik an der lockeren Geldpolitik und der Staatsfinanzierung durch diese Geldpolitik stärkt das BVG die Position, dass Geldpolitik ausschließlich monetäre Ziele hat. Es könnte der EZB nun leichter fallen, sich gegen die Finanzminister zur Wehr zu setzen. Gleichzeitig bekommt sie durch die Befragung des EuGH, der sicher etwas Zeit braucht, um den Fall sorgfältig zu prüfen, ein wenig Zeit, um die Zinswende und das Ende des Ankaufprogramms für Staatsanleihen einzuleiten. Natürlich ist nicht zu erwarten, dass diese Wende überstürzt kommt, aber es bestünde die Möglichkeit, die monatlichen Ankaufbeträge zu senken oder das Programm nicht zu verlängern.
Möglicherweise hilft auch der Verweis auf die Zinswende in den Vereinigten Staaten. Sie könnte auch in der Eurozone Handlungsdruck zu höheren Zinsen und geringerem Geldmengenwachstum erzeugen. Auf jeden Fall kann die EZB, sofern sie das tatsächlich will, ihre faktische Unabhängigkeit schrittweise zurückerobern und ihre Handlungsfähigkeit steigern. Der Beschluss aus Karlsruhe hilft ihr auf jeden Fall dabei.
Geldpolitik der EZB
Die EZB setzt ihre ultralockere Geldpolitik unverändert fort: Der Leitzins bleibt bei null Prozent. Monatlich kauft die Notenbank weiter Staatsanleihen und andere Wertpapiere im Milliardenumfang. Basierend auf den aktuellen Daten halte der EZB-Rat die expansive Geldpolitik nach wie vor für angemessen, begründete Draghi. Immerhin sagt Europas oberster Währungshüter, dass die Notenbank derzeit keine Notwendigkeit sehe, noch mehr Geld in die Hand zu nehmen - etwa über neue Langfristkredite für Banken.
Die EZB strebt für den Euroraum eine Inflationsrate von knapp unter 2,0 Prozent an - weit genug von der Nulllinie entfernt. Im vergangenen Jahr wuchs die Wirtschaft im gemeinsamen Währungsraum robust um 1,7 Prozent. Im Februar 2017 dann knackte die Teuerung erstmals seit vier Jahren wieder die Marke von zwei Prozent - die von den Währungshütern angepeilten Ziele scheinen erreicht. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den 19 Ländern des gemeinsamen Währungsraumes groß. „Die EZB hat einen Auftrag für den Euroraum insgesamt, und darauf muss sie ihre Geldpolitik ausrichten“, sagte der frühere EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing dem „Handelsblatt“.
Hauptgrund für den Anstieg der Inflation ist ein kräftiger Sprung der Energiepreise. Ökonomen rechnen damit, dass der Höhepunkt zunächst erreicht ist. „In den nächsten Monaten dürfte die Inflationshysterie wieder etwas nachlassen“, erklärt die Commerzbank. Wichtig ist für die Währungshüter eine nachhaltige Entwicklung der Verbraucherpreise. Dabei haben sie auch die Kerninflation im Blick - also die Teuerung ohne stark schwankende Energie- und Nahrungsmittelpreise. Im Februar verharrte diese Rate bei vergleichsweise niedrigen 0,9 Prozent.
„Der große Belastungstest steht vermutlich am 7. Mai an, wenn die Stichwahl darüber entscheidet, ob mit Marine Le Pen eine erklärte Euro-Feindin französische Präsidentin wird“, erläutern Ökonomen der Landesbank Helaba. Solange dies nicht geklärt sei, dürfte EZB-Präsident Draghi keine geldpolitische Kursänderung zulassen. Ähnlich sieht das ING-Diba-Chefvolkswirt Carsten Brzeski. Sollte sich die politische Unsicherheit nach den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich legen, könnte die Notenbank im Sommer Hinweise auf einen Ausstieg im Jahr 2018 geben. „Dieses Timing könnte helfen, das EZB-Bashing im beginnenden Wahlkampf in Deutschland zu dämpfen“, sagt Brzeski.
Das dürfte noch eine Weile dauern. Draghi bekräftigte erneut, dass die Zinsen auf absehbare Zeit niedrig bleiben werden - mindestens bis zum Auslaufen der Anleihekäufe Ende 2017. Für Sparer ist das Zinstief bei steigender Inflation bitter. Sparbuch und Co. werfen ohnehin kaum noch etwas ab. Solange die Teuerungsrate nahe der Nulllinie dümpelte, glich sich das in etwa aus. Bei steigenden Verbraucherpreisen bleibt Sparern unter dem Strich aber weniger Geld.
Alle, die Kredite aufnehmen, zum Beispiel Immobilienkäufer. Auch wenn die Zinsen wieder leicht steigen, sind Hypothekenkredite immer noch günstig. Die ultralockere Geldpolitik kommt auch dem deutschen Fiskus zugute, weil er sich günstig verschulden kann. „Wären die Zinsen auf dem Niveau des Jahres 2007 geblieben, hätte der deutsche Staat über die Zeit um rund 250 Milliarden Euro höhere Zinsausgaben stemmen müssen“, rechnete Bundesbank-Präsident Jens Weidmann jüngst in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vor.
Die EZB kann nicht von heute auf morgen einfach den Geldhahn zudrehen. Das würde zu schweren Turbulenzen an den Finanzmärkten führen. Um den Markt vorzubereiten, müssten die Währungshüter das Auslaufen der Wertpapierkäufe einige Monate vorher ankündigen, erläutert Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Friedrich Heinemann, Experte am Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW, mahnt: „Dringend nötig wäre eine klare Perspektive für 2018 mit einer realistischen Strategie zum Auslaufen der Anleihekäufe. Wie bei jedem Ausstieg aus einer Droge ist mit Entzugserscheinungen an den Anleihemärkten zu rechnen, auch Panikattacken sind denkbar.“
Die Hoffnung, dass der EuGH das Ankaufprogramm tatsächlich für europarechtswidrig hält, ist wohl gering. Aber der EuGH könnte nochmals die Bedingungen für den Ankauf von Staatsanleihen verschärfen und so der EZB ebenfalls mehr Spielraum geben, sich vom finanzpolitischen Druck aus Rom, Paris (oder Berlin?) zu befreien. Die EZB muss diese Chance natürlich auch nutzen wollen. Täte sie es nicht, muss man eine weitere Verlängerung der Eurokrise befürchten.