Das kann natürlich langfristige Konsequenzen für die Demokratien haben, die dann auch den Charakter von Zombies annehmen können, wenn es den nationalistischen, rassistischen und protektionistischen Parteien am linken und rechten Rand gelingt, die Mehrheit zu überzeugen und die Regierungen zu stellen. Dann wäre die EZB tatsächlich der Wegbereiter der Auflösung der EU – kaum vorstellbar, dass Draghi das nicht sieht! Ob sich dann der internationale Schulterschluss der Nationalisten (ein interessantes Paradoxon) noch aufrechterhalten lässt, ist eine offene Frage. Vielleicht gibt es dann wieder Ressentiments innerhalb Europas, denn es ist politisch sehr attraktiv, ausländische Mächte für die eigenen Probleme verantwortlich zu machen. Der Euro wirkt schon lange nicht mehr wie ein Friedensprojekt!
Geldpolitik der EZB: Belastungen durch Niedrigzinsen
In Deutschland beliebte Sparformen wie Tages- und Festgeld werfen kaum noch etwas ab. Die niedrige Inflation gleiche die negativen Effekte der niedrigen Zinsen allerdings aus, betont EZB-Präsident Mario Draghi. Derzeit liege die Verzinsung minus Inflation höher als im Durchschnitt der 1990er Jahre. „Zu der Zeit hatten Sie höhere Zinsen auf dem Sparbuch, aber zugleich meist Inflation, die weit darüber lag und alles auffraß“, sagte Draghi jüngst in einem Interview. Im Mai lagen die Verbraucherpreise in Deutschland nach vorläufigen Berechnungen gerade einmal um 0,1 Prozent über dem Vorjahresniveau.
Stand: 07.06.2016
Finanzinstitute müssen Strafzinsen zahlen, wenn sie Geld bei der EZB parken. Für den durchschnittlichen Privatkunden sind Strafzinsen bislang kein Thema. Man werde „alles tun, um die privaten Sparer vor Negativzinsen zu schützen - in Teilen auch zu Lasten der eigenen Ertragslage“, sagte jüngst der Chef des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Georg Fahrenschon. Wenn die aktuelle Niedrigzinsphase aber lange andauere, würden die Sparkassen die Kunden letztlich nicht davor bewahren können. Zudem könnten Geldhäuser nach Angaben des Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), Uwe Fröhlich, gezwungen sein, an der Gebührenschraube zu drehen: „Jeder muss in seiner Bank überlegen, wie er über Konditionen-Gestaltung gegen die Ertragsverluste anarbeitet, die ohne Zweifel da sind.“
Lebensversicherern fällt es immer schwerer, die hohen Zusagen der Vergangenheit zu erwirtschaften. Die Folge: Die Verzinsung des Altersvorsorge-Klassikers sinkt seit geraumer Zeit. Auch Betriebsrenten leiden, Firmen müssen wegen der Zinsschmelze immer mehr Geld für die Pensionsverbindlichkeiten zurücklegen. Viele Unternehmen versprechen bei Neueinstellungen daher keine konkreten Leistungen mehr, sondern sagen lediglich zu, einen bestimmten Betrag pro Monat in Vorsorgekassen einzuzahlen. Das Zinsrisiko tragen die künftigen Pensionäre.
Je schlechter Europa dasteht, desto wahrscheinlicher ist dieses Szenario. Ein Gegenmittel ist eine rationale Politik, die weiterhin auf Offenheit und fiskalische Stabilität setzt. Es ist nämlich ein Trugschluss zu glauben, dass man mit Akkommodierung der Populisten (Quoten für Flüchtende, Stopp der Globalisierung, neue mit der Druckerpresse bezahlte Staatsschulden) die wirtschaftliche Situation irgendwie verbessert. In der mittleren Frist geht es vielen eher schlechter. Ein Teufelskreis könnte beginnen – neue Schuldige werden gesucht und in Ausländern gefunden; die Barrieren werden erhöht, und es geht noch schlechter.
Jetzt ist Augenmaß und Einsicht dringend gefordert. Der drohende Brexit sollte so gehandhabt werden, dass man den Briten so weit wie möglich entgegenkommt. Wenn die Wanderung für die Menschen – den Produktionsfaktor Arbeit. beziehungsweise Humankapital – schwerer fällt, sollte nicht noch der Außenhandel zwischen der EU und den Briten eingeschränkt werden; die beiden sind in gewisser Weise Substitute. Die EU könnte mit Großzügigkeit beim Handel so vielleicht dafür sorgen, dass diejenigen Europäer, die schon in Großbritannien sind, und die in Spanien lebenden Briten nicht in ihre Heimatländer geschickt werden.
Die Geldpolitik muss zudem gründlich reformiert werden, denn wenn es erst einmal offenbar wird, dass die EZB eine große Umverteilung organisiert, dürfte die Zustimmung für Europa gerade in Deutschland drastisch sinken. Möglicherweise muss auch der Themenkomplex Austritt und Schuldenschnitt wieder auf die Tagesordnung.
Andere Politikfelder könnten bei dieser Gelegenheit ebenfalls überprüft werden: Sozialunion, Agrarpolitik oder Regionalpolitik kommen dabei sofort in den Sinn.
Der erwähnte Ökonom Sinn schlägt vor, die Austrittsverhandlungen für grundsätzliche Neuverhandlungen der Regeln der EU zu nutzen. Dem kann nur zugestimmt werden, auch wenn es dann Gezerre geben wird. Das würde es ohne Neuverhandlungen auf jeden Fall auch geben – dann nur noch in einer erheblich feindseligeren Umgebung. Wahrscheinlich hat die EU nicht mehr viele Chancen. Diese wenigen sollte sie nutzen.