Freytags-Frage

Wie können wir den Kollaps in Europa verhindern?

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Ein interessantes Paradoxon

Das kann natürlich langfristige Konsequenzen für die Demokratien haben, die dann auch den Charakter von Zombies annehmen können, wenn es den nationalistischen, rassistischen und protektionistischen Parteien am linken und rechten Rand gelingt, die Mehrheit zu überzeugen und die Regierungen zu stellen. Dann wäre die EZB tatsächlich der Wegbereiter der Auflösung der EU – kaum vorstellbar, dass Draghi das nicht sieht! Ob sich dann der internationale Schulterschluss der Nationalisten (ein interessantes Paradoxon) noch aufrechterhalten lässt, ist eine offene Frage. Vielleicht gibt es dann wieder Ressentiments innerhalb Europas, denn es ist politisch sehr attraktiv, ausländische Mächte für die eigenen Probleme verantwortlich zu machen. Der Euro wirkt schon lange nicht mehr wie ein Friedensprojekt!

Geldpolitik der EZB: Belastungen durch Niedrigzinsen

Je schlechter Europa dasteht, desto wahrscheinlicher ist dieses Szenario. Ein Gegenmittel ist eine rationale Politik, die weiterhin auf Offenheit und fiskalische Stabilität setzt. Es ist nämlich ein Trugschluss zu glauben, dass man mit Akkommodierung der Populisten (Quoten für Flüchtende, Stopp der Globalisierung, neue mit der Druckerpresse bezahlte Staatsschulden) die wirtschaftliche Situation irgendwie verbessert. In der mittleren Frist geht es vielen eher schlechter. Ein Teufelskreis könnte beginnen – neue Schuldige werden gesucht und in Ausländern gefunden; die Barrieren werden erhöht, und es geht noch schlechter.

Jetzt ist Augenmaß und Einsicht dringend gefordert. Der drohende Brexit sollte so gehandhabt werden, dass man den Briten so weit wie möglich entgegenkommt. Wenn die Wanderung für die Menschen – den Produktionsfaktor Arbeit. beziehungsweise Humankapital – schwerer fällt, sollte nicht noch der Außenhandel zwischen der EU und den Briten eingeschränkt werden; die beiden sind in gewisser Weise Substitute. Die EU könnte mit Großzügigkeit beim Handel so vielleicht dafür sorgen, dass diejenigen Europäer, die schon in Großbritannien sind, und die in Spanien lebenden Briten nicht in ihre Heimatländer geschickt werden.

Die Geldpolitik muss zudem gründlich reformiert werden, denn wenn es erst einmal offenbar wird, dass die EZB eine große Umverteilung organisiert, dürfte die Zustimmung für Europa gerade in Deutschland drastisch sinken. Möglicherweise muss auch der Themenkomplex Austritt und Schuldenschnitt wieder auf die Tagesordnung.

Andere Politikfelder könnten bei dieser Gelegenheit ebenfalls überprüft werden: Sozialunion, Agrarpolitik oder Regionalpolitik kommen dabei sofort in den Sinn.

Der erwähnte Ökonom Sinn schlägt vor, die Austrittsverhandlungen für grundsätzliche Neuverhandlungen der Regeln der EU zu nutzen. Dem kann nur zugestimmt werden, auch wenn es dann Gezerre geben wird. Das würde es ohne Neuverhandlungen auf jeden Fall auch geben – dann nur noch in einer erheblich feindseligeren Umgebung. Wahrscheinlich hat die EU nicht mehr viele Chancen. Diese wenigen sollte sie nutzen.

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