
Es ist jetzt klar. Der neue Präsident der Europäischen Kommission wird Jean-Claude Juncker heißen. Trotz heftigen Widerstandes aus Großbritannien hat sich der Europäische Rat auf seinem Gipfel in der vergangenen Woche darauf geeinigt, dem Europäischen Parlament Herrn Juncker vorzuschlagen.
Allerdings gibt es viel Unzufriedenheit mit dem neuen Präsidenten. Herrn Junckers Rolle in der Staatsschulden- und Vertrauenskrise der EWU wird – sicherlich nicht zu Unrecht – von etlichen Beobachtern kritisiert. Er scheint für ein „weiter so“ zu stehen, plädiert offenbar für mehr Integration als Antwort auf die Krise, ohne die tieferen Ursachen zu analysieren. Juncker gilt überdies vielen als gestrig, hauptsächlich, weil er schon so lange dabei ist.
Auch war der neue Präsident bei den Befürwortern nicht unumstritten. Allzu herzlicher Zuneigung scheint er sich wirklich nicht zu erfreuen. Namentlich Frau Merkel gilt nicht als große Anhängerin Herrn Junckers. Vielmehr ist der Eindruck entstanden, die Personalie hätte eine Eigendynamik entwickelt, die bei der Festlegung auf die sog. Spitzenkandidaten bei der Europawahl ihren Anfang zu nehmen schien. Man kann den Eindruck bekommen, die nationalen Regierungschefs seien nie so ganz von dieser Vorgehensweise überzeugt gewesen. Rechtlich ist sie auch nicht unumstritten.
Das ist Jean-Claude Juncker
Jean-Claude Juncker ist ein Veteran auf dem Europa-Parkett. Als er im Dezember 2013 nach 18 Jahren aus dem Amt des Premierministers im Großherzogtum Luxemburg schied, war der Christsoziale der seit langem dienstälteste Regierungschef in der Europäischen Union.
Kurz nach Ende seines Jurastudiums war Juncker als 28-Jähriger Mitglied der Regierung geworden - und geblieben, bis Liberale, Sozialdemokraten und Grüne mit vereinten Kräften schließlich eine Anti-Juncker-Koalition schmiedeten. Von 2005 bis 2013 war er auch Vorsitzender der Eurogruppe, der die Finanzminister der Staaten mit Euro-Währung angehören.
Juncker gilt als Europäer aus Leidenschaft. Als Sohn eines in der christlichen Gewerkschaftsbewegung aktiven Bergwerkspolizisten und als Bürger eines einst von deutschen Soldaten besetzten Landes sieht er die EU als wichtiges Friedensprojekt und als Garanten für sozialen Ausgleich. Er ist ein intimer Kenner der internen Abläufe und Befindlichkeiten innerhalb der EU und war sowohl einer der „Erfinder“ als auch Krisenmanager des Euro.
Was die einen als Vorteil sehen, erscheint anderen als Nachteil: Für den ehemaligen britischen Premierminister David Cameron und andere Kritiker ist Juncker die Verkörperung einer „alten“, entrückten und überregulierten EU.
Juncker hat mehrfach erklärt, er fühle sich dem Amt gesundheitlich gewachsen. Nach Äußerungen des niederländischen Finanzministers Jeroen Dijsselbloem, Juncker sei „ein verstockter Raucher und Trinker“, erklärte er, er habe kein Alkoholproblem.
Insofern könnte man Frau Merkel als eine Verliererin ansehen, die es nicht geschafft habe, einen ihr nicht genehmen Kandidaten zu verhindern. Dies sei dann bedauerlich, wenn er ihre Reformbemühungen nicht mittrage. Gleichzeitig habe sie zu lange den Eindruck vermittelt, den britischen Premierminister David Cameron in seiner ablehnenden Haltung Herrn Juncker gegenüber zu unterstützen. Cameron sei nun enttäuscht und wende sich vermutlich ab.
Letzterer gilt vielen als der ausgemachte Verlierer. David Cameron hat sich bis zuletzt – mit durchaus persönlichen Argumenten – gegen die Wahl Junckers gewandt. Nun ist er krachend gescheitert, so die gängige Lesart. Deshalb werde es nun immer schwerer, britische Interessen zu vertreten und den britischen Austritt zu verhindern.
Gewonnen hätten nur diejenigen, die sich einen Kommissionspräsidenten wünschten, der für Schuldenunion, Eurobonds und mehr Flexibilität stünde. Dies sind die Regierungen der Problemländer, insbesondere Italien und Frankreich, aber auch Teile der GIIPS. Diese seien nun weniger Druck zu Reformen ausgesetzt und könnten sich weiterhin verschulden, ohne den Verträgen entsprechend von der Europäischen Kommission kontrolliert oder gar gemaßregelt zu werden.
Tritt dieser Fall ein, dann stehen uns wahrlich schlechte Zeiten ins Haus.
Aber wie wahrscheinlich ist dieses Szenario? Sind die Verlierer und Gewinner so eindeutig verteilt? Werden nun gerade die Deutschen verlieren? Und werden die Briten zum Austritt quasi gezwungen?
Wir wissen es nicht und können auch keine genaue Prognose abgeben. Aber man kann sicherlich einige Plausibilitätsüberlegungen anstellen.
Fangen wir mit Herrn Cameron an. Was wäre passiert, hätte er sich durchgesetzt und ein „Wunschkandidat“ wäre der neue Kommissionspräsident geworden? Vermutlich würde in Kontinentaleuropa jede Entscheidung, jeder Vorschlag der Kommission zu mehr Stabilität und Reformen als Zugeständnis an die Briten betrachtet werden. Schlimmer noch, jede Entscheidung zu mehr Flexibilität der Regelauslegung oder gar zu mehr Zentralisierung in Einzelfällen würde in Großbritannien als Niederlage des Premiers gewertet werden. Es entstünde auf der Insel vermutlich hoher politischer Erwartungsdruck bzw. hohe politische Spannung. Mit dem Kommissionspräsidenten Juncker hat der britische Premier nun auf jeden Fall einen geeigneten Sündenbock, wenn er sich europakritisch geben muss.