Freytags-Frage
In der vergangenen Woche hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihre geldpolitische Strategie aktualisiert. Quelle: dpa

Ist Preisniveau-Stabilität noch ein Ziel der Geldpolitik?

Die neue Strategie der EZB muss nicht zwingend zu einer höheren Inflation führen. Das Potential politischer Akteure, Druck auf die EZB auszuüben, ist dagegen eher gewachsen. Wie wichtig ist da noch die Preisstabilität?

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In der vergangenen Woche hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihre geldpolitische Strategie aktualisiert. Sie verabschiedet sich von der bisherigen Zwei-Säulen-Strategie und befasst sich ausschließlich mit der gesamtwirtschaftlichen Analyse; die Analyse der Geldmenge wird dort integriert. Substanziell umfasst die Strategie ein neues Inflationsziel, die Einbeziehung von den Kosten selbstgenutzten Wohneigentums in die Inflationsrate und eine stärkere Berücksichtigung der klimapolitischen Risiken für das Preisniveau. Wenige Tage später wurde dann noch die Einführung eines digitalen Euros beschlossen.

Im Zentrum der Strategie steht sicherlich das neue Inflationsziel, um das offensichtlich heftig gerungen wurde. Es sieht vor, dass die angestrebte Inflation nicht länger unter, aber nahe bei zwei Prozent Inflation liegt. Stattdessen gelten nun zwei Prozent Inflation als kompatibel mit Preisniveaustabilität und – dies ist besonders wichtig – Abweichungen nach oben und unten werden als gleichermaßen unerwünscht angesehen. Die EZB spricht von einem symmetrischen Ziel. Als Konsequenz kann die Zentralbank zukünftig über längere Zeit eine Inflationsrate von über zwei Prozent akzeptieren. Nicht durchsetzen konnten sich aber diejenigen, die gefordert hatten, längere Zeiten einer Inflationsrate von unter zwei Prozent durch längere Perioden der Inflation von über zwei Prozent zu kompensieren, wie es die Fed für ihr Inflationsziel vorsieht.

Neu ist auch die Einbeziehung der Kosten selbstgenutzten Wohneigentums in die Inflationsmessung; bislang werden ausschließlich Mieten mit einbezogen. Unklar ist jedoch, wie dies zu geschehen hat, da diese Kosten schwer erfassbar sind und zudem Wohneigentum, ob selbstgenutzt oder vermietet, auch Vermögen darstellt. Die Entwicklung der Vermögenspreise spielt für die Inflationsmessung prinzipiell keine Rolle, weswegen dieser Beitrag zur Inflationsmessung noch auszugestalten ist.

Die EZB hat bereits seit Längerem damit geliebäugelt, ihre Anleihekäufe nach ökologischen Gesichtspunkten zu organisieren. Nun werden klimapolitische Aspekte in die Geldpolitik einbezogen. Eine klimapolitische Ausrichtung der Geldpolitik wird von der EZB vor allem mit dem Inflationsziel begründet. Sie umfasst die Analyse der Klimarisiken im Allgemeinen sowie die Käufe von Unternehmensanleihen.

Nicht als expliziter Teil der neuen Strategie, aber in naher zeitlicher Kongruenz hat sich die EZB am 14. Juli entschlossen, einen digitalen Euro als Antwort auf die sogenannten Kryptowährungen und entsprechende digitale Initiativen der chinesischen und anderer Notenbanken in den kommenden Jahren nach einem genau definierten Fahrplan einzuführen. Dieser ist ausdrücklich als Ergänzung zum Bargeld, nicht als dessen Ersatz vorgesehen. Geldschöpfung der Banken kann damit sowohl erleichtert als auch erschwert werden, je nach Ausgestaltung. Auch hier erklärt die EZB, dass sie keinerlei Absichten hegt, den Bankensektor zu umgehen.

Dieser Strategiewechsel basiert auf einem langen Diskussionsprozess und war vor allem im Eurosystem selber umstritten. Vor allem die Änderung des Inflationszieles wurde nicht ohne Widerstand seitens einiger Zentralbankpräsidenten in der Eurozone vollzogen. Dieser Widerstand hatte gute Gründe, denn die neue Symmetrie könnte die Inflationsrate in der Eurozone langfristig deutlich erhöhen. Es ist in keiner Weise deutlich gemacht worden, unter welchen Umständen, wie lange und in welcher Höhe Abweichungen der Inflationsrate vom Zielwert zwei Prozent von der EZB akzeptiert würden.

Und in der Tat ist Misstrauen nicht unberechtigt. Immerhin hat die EZB ihr Mandat in der vergangenen Dekade recht deutlich ausgeweitet. Der systematische Ankauf von Staatsanleihen seit Jahren in Billionenhöhe kann durchaus als Beleg dafür gelten, dass die Zentralbank ihre Unabhängigkeit von der Politik verloren oder aufgegeben hat. Nun dürfte es ihr schwerfallen, von dieser etwas euphemistisch als „Quantitiative Easing“ bezeichneten Politik zu einer geldpolitischen Normalität zurückzukehren, zumal sich die Finanzminister der Eurozone ja auch an die niedrigen Zinsen gewöhnt haben. Es ist keineswegs sicher, dass die EZB bei einer längeren Phase höherer Inflation von beispielsweise vier Prozent sich dazu durchringen kann, die Zinsen anzuheben. Zu groß dürfte der Druck aus der Politik sein. Insofern kann die neue Strategie nicht als Indiz dafür gewertet werden, dass die EZB in der Zukunft dem Verlangen der Fiskalpolitik, mittels der Inflationssteuer die Staatsschulden real zu entwerten, widerstehen kann.

Nach dieser Lesart könnte der digitale Euro ebenfalls Zweifel wecken. Die EZB hat bereits vor vielen Jahren die Neuemission von 500-Euro-Noten eingestellt, vorgeblich um die Geldwäsche und die Organisierte Kriminalität zu bekämpfen, vermutlich aber hauptsächlich, um die Kosten der Bargeldhaltung zu erhöhen, was wiederum die Möglichkeit erhöht, den Einlagenzins noch weiter unter Null zu drücken. Wenn nun anstelle der Nutzung von Bargeld viele Bürger ein Konto bei der EZB unterhalten müssen, steigt das Potenzial, die Entschuldung der Regierungen mit Hilfe des Negativzinses voranzutreiben.

Gegen die Interpretation, dass die neue Strategie vor allem den Finanzministern zuliebe gewählt wurde, spricht allerdings die Neudefinition des für die Inflationsmessung relevanten Warenkorbes. Denn dadurch wird die Inflationsrate tendenziell erhöht, was wiederum die Notwendigkeit der Inflationsbekämpfung vergrößern dürfte. Diese Erweiterung des Warenkorbes wird dementsprechend überall als richtiger Schritt gewürdigt.

Schließlich bleibt die klimapolitische Ausrichtung der Geldpolitik. Diese ergibt im Grunde keinen Sinn, wenigstens so lange die Klimapolitik der Regierungen effizient und effektiv ausgestaltet ist, also eine sektorübergreifende marktwirtschaftliche Klimapolitik betrieben wird. Denn dann wären Anleihen von klimafreundlich agierenden Unternehmen am Markt ohnehin attraktiver als klimaschädliche Anleihen. Der Umstand, dass die Klimapolitik in der Europäischen Union weder effektiv noch effizient ist, sollte aber nicht zu der Annahme verleiten, dass die EZB durch Anleihekäufe dieses Defizit wettmachen könnte. Dieses Element der Geldpolitik läuft eher Gefahr, die Verzerrungen und Ungerechtigkeiten der Klimapolitik noch zu verschärfen. Es kann nicht Aufgabe der Zentralbank sein, Industriepolitik zu betreiben. Auch hier begibt sie sich in die Abhängigkeit von Regierungen.

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Insgesamt wirkt die neue Strategie nicht ausgewogen. Man muss zwar nicht gleich befürchten, dass die Inflationsrate dauerhaft hoch sein wird. Aber das Potenzial für politische Akteure, Druck auf die EZB auszuüben, ist eher gewachsen. Angesichts der bereits heute sichtbaren Einflussnahme der Finanzminister auf die Geldpolitik sind Sorgen berechtigt, dass die Preisniveaustabilität in der Eurozone langfristig weniger Beachtung finden wird.

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