Freytags-Frage

Kann die EU zum großen Brexit-Verlierer werden?

Bisher ist es vor allem die britische Wirtschaft, die nach dem Brexit unter Druck gerät. Längerfristig könnte aber auch die EU zu den Verlierern gehören, wenn sie Großbritannien als Partner nicht ernst genug nimmt.

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Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Etwa sieben Wochen nach dem Referendum in Großbritannien, in dem sich die Mehrheit der Briten für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) entschieden hat, zeigen sich die ersten Folgen für die britische Wirtschaft und die ersten halbwegs belastbaren Aussagen von politischen Entscheidungsträgern in Europa werden getätigt. Dabei sind zwei gegenläufige Dynamiken absehbar.

Zum einen wird deutlich, dass die britische Wirtschaft schon jetzt unter Druck gerät, obwohl die Verhandlungen über den Austritt noch gar nicht begonnen haben; es ist noch nicht einmal der Antrag der britischen Regierung bei der EU eingegangen. Drei Beispiele zeigen dies: Die jüngste Arbeitsmarktstatistik im Vereinigten Königreich weist kaum noch unbefristete offene Stellen aus, viele Unternehmen legen Investitionspläne in Großbritannien auf Eis, und die japanische Wirtschaft ist nervös, weil große Teile ihrer britischen Niederlassungen für den Europäischen Binnenmarkt produzieren. Dieser Markt droht nun schwerer bespielbar zu werden.

Diese Situation ist vermutlich gerade für viele derjenigen Menschen, die sich in der EU nicht mehr wohlfühlen und entsprechend den Brexit gewählt haben, am gefährlichsten, weil sie besonders anfällig für eine Krise des Arbeitsmarktes zu sein scheinen. Vor diesem Hintergrund droht eine Rezession.

Die wichtigsten Infos zum Brexit-Referendum

Die Bank of England hat bereits reagiert und die Zinsen weiter gesenkt, um die britische Wirtschaft zu stimulieren. Die Erfahrungen in Japan und der Eurozone lassen nicht unbedingt erwarten, dass diese Maßnahme sehr viel Erfolg bringen wird. Insofern sind die Befürchtungen der Brexit-Gegner nicht unbegründet: Großbritannien droht, in schweres Fahrwasser zu geraten. Nebenbei bemerkt: das wäre nicht gut für die EU, die dann ebenfalls verlieren dürfte.

Oder kommt alles anders?

Dagegen steht auf der anderen Seite ein anderes Szenario, für das es ebenfalls Anzeichen gibt. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU könnte das Land für andere Partner noch interessanter werden; gleichzeitig wird die EU weniger interessant. So vermuten einige Medien, dass das transatlantische Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) ohne Großbritannien seine Strahlkraft für die Vereinigten Staaten (USA) verlieren könnte. Auf jeden Fall wirkt die EU ohne Großbritannien von außen betrachtet weniger offen und freihändlerisch und auch weniger attraktiv als Markt. Bedenkt man noch den Widerstand gegen TTIP aus Kontinentaleuropa (vor allem aus Deutschland, dem Land, das als Exportnation am meisten vom Außenhandel abhängt), könnte sich die US-Administration von den Verhandlungen verabschieden.

Wo die großen Brexit-Baustellen sind

Stattdessen könnte man sich vorstellen, dass die USA direkt mit den Briten ein bilaterales Freihandelsabkommen anstreben wird. Die Verhandlungen darüber dürften recht schnell vorankommen, da ihnen weder Sprachprobleme noch eine höchst komplexe Interessenvielfalt á la EU im Wege stehen. Zudem sind die USA und Großbritannien in Fragen des Außenhandels vermutlich im Grundsatz einiger als die europäischen Staaten untereinander.

Verbrüdern gegen die EU?

Es hat sogar die Überlegung gegeben, Großbritannien aufzufordern, einen Beitritt zur transpazifischen Partnerschaft (TPP) anzustreben. Dies käme den USA, Kanada, Japan und anderen Asiaten, aber auch Neuseeland und Australien sicherlich sehr entgegen, für die Briten wäre es ein guter Ersatz für die Mitgliedschaft im Binnenmarkt. Auch andere Partner wie Indien oder China dürften an einem derart vernetzten Großbritannien ein ernsthaftes Interesse verspüren.

Schließlich wäre es sogar denkbar, dass das schwächelnde Commonwealth durch derartige handelspolitische Offensiven wiederbelebt wird. Im Moment wird die Zukunft des Commonwealth ergebnisoffen diskutiert, mit einer klaren handelspolitischen Vorgabe könnte sich das ändern.

Dieses Szenario dürfte auch für Investoren interessant sein; denkbar wäre sogar eine Verlagerung von Produktionsstätten auf die britischen Inseln. Damit ergäbe sich für die Europäische Union ein ernsthaftes Problem. Aus der Position der Stärke gegenüber Großbritannien würde dann nämlich eine Position der Schwäche in der Weltwirtschaft ergeben:

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

Erstens wäre Großbritannien im Zweifel sogar attraktiver als Investitionsstandort als vor dem Brexit, und zweitens wäre die EU nicht mehr erste Adresse für potenzielle neue Freihandelsabkommen. Zwar gibt es bereits Überlegungen, Freihandelsabkommen mit Australien und Neuseeland abzuschließen, und selbst ein Freihandelsabkommen mit China wird bereits in der Öffentlichkeit diskutiert. Dazu liegt eine Studie des CEPS in Brüssel vor. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die drei Länder in diesem Szenario mit derselben Intensität an Abkommen mit der EU arbeiten würden.

Drittens ist nicht auszuschließen, dass diese Dynamik zentrifugale Kräfte freisetzt, indem andere EU-Mitglieder ebenfalls den Ausstieg aus der EU wählen.

Denkbar ist sogar, dass beide Szenarien oder Dynamiken eintreten. Der britische Schaden würde sicherlich kurzfristig eintreten. In der mittleren oder längeren Frist könnte sich aber Großbritannien als Handelspartner empfehlen und der EU den Rang ablaufen. In diesem Fall wäre die EU der große Verlierer des Brexit.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Die Lehre daraus für die EU ist eindeutig. Es ist nicht angemessen, den Briten bei den anstehenden Verhandlungen arrogant und abweisend gegenüber aufzutreten. Das heißt natürlich nicht, dass deshalb die Regeln des Binnenmarktes aufgeweicht werden; Härte in der Sache ist durchaus angebracht. Großbritannien muss als Partner aber ernstgenommen werden; seine Beteiligung im Binnenmarkt muss weiterhin angestrebt werden.

Gleichzeitig sollte die EU ihre Bemühungen um weitere Handelserleichterungen mit Drittländern glaubwürdig fortsetzen. Aus europäischer Perspektive wäre es ein Drama, wenn aus falschverstandenem Ärger über den Brexit und Fehleinschätzungen über die relative Position Großbritanniens zukünftige Chancen leichtfertig verspielt werden. Der Brexit darf nicht den Startschuss in europäischen Isolationismus bilden.

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