Freytags-Frage
Aus Sicht der Europäischen Zentralbank stellt diese heutige Inflationsrate kein Problem dar. Quelle: dpa

Kann die EZB die Inflation überhaupt noch bekämpfen?

Der Druck auf die EZB, die Zinsen niedrig zu lassen, dürfte bereits hoch sein. Besitzt sie noch genug Unabhängigkeit, das Inflationsziel über die Rettung maroder Staatshaushalte zu stellen? Langsam steigen die Zweifel.

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Angesichts stark steigender Energiepreise merken nun alle Bürger, dass in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWU) das Ziel der Preisniveaustabilität in ernster Gefahr ist. Die Inflationsrate der Eurozone lag im September bei 3,4 Prozent. In Deutschland war sie mit 4,1 Prozent sogar etwas höher und damit so hoch wie 28 Jahre nicht mehr. Zur Erinnerung: Das war 1993, als die Bundesrepublik hohe Arbeitslosigkeit, vereinigungsbedingt steigende Staatsverschuldung, Probleme im Export und eine Rezession zu ertragen hatte.

Aus Sicht der Europäischen Zentralbank (EZB) stellt diese heutige Inflationsrate kein Problem dar. Treiber seien schließlich Energie und das nachholende Kaufverhalten nach dem absehbaren Ende der Corona-Krise. Solange die Dienstleistungsmärkte und darunter vor allem der Arbeitsmarkt nicht ebenfalls durch hohe Preissteigerungen beziehungsweise Lohnerhöhungen eine Lohn- und Preisspirale in Gang setze, läge kein Anlass vor, mit Zinssteigerungen oder geringeren Käufen von Staatsanleihen zu reagieren, so der Chefvolkswirt der EZB, Philip Lane, sinngemäß. Man kann nur hoffen, dass er Recht hat.

Allerdings sehen andere Akteure, vor allem aus den nationalen Notenbanken der Mitgliedsländer der EWU, die Situation längst nicht so entspannt wie Herr Lane. Denn auch wenn viel für die Überlegung spricht, dass erstens die Unternehmen die Kauflust der Bürger zu Preissteigerungen nutzen und zweitens die stark gestiegene Nachfrage nach Energie ebenfalls preissteigernd wirkt, muss es doch beunruhigen, dass wir zur selben Zeit Zeugen von deutlichen Lieferengpässen sind. Diese Engpässe können leicht zu weiteren Preissteigerungen in der Zukunft und auf nachgelagerten Märkten führen.

So hat der Mangel an Containern die Transportkosten bereits deutlich erhöht, der Chipmangel verteuert bereits viele Güter der Unterhaltungselektronik, in einigen Ländern kosten Neuwagen weit mehr als noch vor einigen Monaten. Vor diesem Hintergrund ist es naiv und gefährlich, die Inflation als temporäres Phänomen kleinreden zu wollen. Es ist ja auch nicht ausgeschlossen, dass die Ausweitung der Zentralbankbilanzen sich irgendwann in die inflationsrelevante Geldmenge M3 überträgt, weil die Banken wieder zur vor der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise geübten Praxis der Geldschöpfung zurückkehren, wenn überall die Nachfrage nach Kredit steigt.

Aber es kann noch schlimmer kommen; die Inflation könnte zu schweren Schäden der Realwirtschaft beitragen. So ist zum Beispiel nicht auszuschließen, dass die Erhöhung der Baukosten sich weiter steigernd auf die Kaltmieten niederschlägt. Dies würde aus einem zunächst technisch anmutenden ökonomischen Problem ein politisches Streitthema machen, das eventuell zu politischen Kurzschlussreaktionen wie flächendeckenden Preisbremsen oder gar Enteignungen führen. Dann wäre die wirtschaftliche Ordnung ebenfalls gefährdet.

Abgesehen davon sind die Energiepreissteigerungen politisch gewollt, da fossile Brennstoffe über Preissignale zurückgedrängt werden sollen. Früher oder später werden dann ausreichend erneuerbare Energien zur Verfügung stehen, wodurch dann die Energiepreise wieder fallen dürften. Die Geschwindigkeit dieser gegenläufigen Prozesse hängt nicht zuletzt von der Ausgestaltung deutscher Klimapolitik und der Fähigkeit der Verwaltung ab, erneuerbare Energien zu ermöglichen. Die EZB hat damit nichts zu tun; sie müsste aber dafür sorgen, dass die Energiepreisveränderungen als relative Preisveränderungen sich nicht in höherer Inflation niederschlagen.



Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erwarten, dass die Inflationsrate sich in den nächsten Monaten reduzieren wird, das wäre wie gesagt naiv. Manche Beobachter erwarten, dass die Geldentwertung sich im Verlaufe des kommenden Jahres ungebremst fortsetzen wird, zumal sich ja auch in anderen OECD-Ländern, zum Beispiel den Vereinigten Staaten (USA), eine ähnliche Entwicklung vollzieht. In den USA ist die Inflationsrate im September mit über 5 Prozent gemessen worden. Es wird bereits offen über eine sich anbahnende Stagflation gesprochen.

Es wäre aber mindestens genauso naiv, dem Chefvolkwirt der EZB oder seinen Mitarbeitern Naivität oder Unkenntnis oder mangelndes Verständnis für diese doch recht simplen Zusammenhänge zu unterstellen. Sowohl die geldtheoretischen Kenntnisse und analytischen Fähigkeiten als auch die Datenbasis in Notenbanken – und allemal in der EZB – sind hervorragend. Die hier beschriebenen Zusammenhänge können in Frankfurt nicht unbekannt sein.

Das führt zur Frage danach, warum die EZB sich beharrlich weigert, die Notwendigkeit von geldpolitischen Korrekturen zumindest in der Theorie anzuerkennen und sich entsprechend auch kommunikativ zu wappnen. Es müsste doch in ihrem Interesse sein, mit entsprechend vorsichtigen Ankündigungen die Marktteilnehmer auf mögliche restriktive geldpolitische Maßnahmen vorzubereiten.

Diese Maßnahmen hätten aber sicherlich in mehrerer Hinsicht Nebenwirkungen, die möglicherweise zur Erklärung für den Attentismus seitens der EZB beitragen. Zunächst ist zu befürchten, dass mit Zinserhöhung und Liquiditätsverknappung rezessive Wirkungen einhergehen, wobei zu bedenken ist, dass die expansiven Wirkungen der Zinssenkungen und Steigerungen der Zentralbankgeldmenge in den letzten Jahren vor Corona nicht überragend waren. Dieser Kanal ist zudem bekannt, und Zentralbanken können im Prinzip damit umgehen.

Deswegen sind die weiteren Nebenwirkungen vermutlich schwerwiegender. Denn erstens ist ein Großteil der Geldmengenexpansion in Vermögenswerte geflossen, weshalb die Preise beziehungsweise Kurse dieser Vermögenswerte konstant und stetig gestiegen sind; selbst Corona hat diesen Trend nur kurz stoppen können. Hier sind erhebliche Kurskorrekturen zu erwarten, die natürlich auch realwirtschaftliche Konsequenzen haben können, wenn kurzfristige Kursverluste oder Wertverluste für Immobilien auftreten. Möglicherweise drohen dann auch wieder Unternehmenszusammenbrüche im Finanzsektor.

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Zweitens bedeuten höhere Zinsen höhere Kosten für Staatshaushalte. Die stark verschuldeten Regierungen in der EWU würden unter steigenden Zinsen leiden und müssten dann Ausgaben anderswo reduzieren. Sie haben sich aber an die Droge Nullzins gewöhnt. Der Druck auf die EZB, die Zinsen niedrig zu lassen, dürfte bereits jetzt hoch sein. Hier stellt sich dann die entscheidende Frage, nämlich ob die EZB noch genug Unabhängigkeit und Stärke besitzt, das Inflationsziel über den Druck, marode Staatshaushalte zu finanzieren, zu stellen. Langsam steigen die Zweifel!

Mehr zum Thema: Die Verbraucher müssten für viele Güter mehr bezahlen, erhielten dafür aber weniger Qualität, sagt der Leipziger Ökonom Gunther Schnabl. Das werde bei der Inflationsmessung nicht ausreichend berücksichtigt.

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