Freytags-Frage
Quelle: dpa

Kann sich Europa eine doppelte Moral leisten?

Die Europäische Union hält viel von ihren eigenen Grundsätzen und Werten. In der Realität spiegelt sich das kaum wider. Gerade beim Lieferkettengesetz wird das deutlich.

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Die Europäische Union (EU) bildet sich viel auf ihre Werte ein. Schon auf der Startseite des Internetauftritts der EU werden die Grundsätze und Werte prominent aufgeführt. Keine öffentliche Rede kommt ohne den Hinweis auf diese Werte aus. Das macht auch Sinn, denn diese Werte sind im großartig; Europa steht in der Tat für Menschen- und Bürgerrechte, für Frieden und Nachhaltigkeit. Wir können froh sein, in Europa zu leben. Gleichzeitig müssen wir permanent für diese Werte einstehen, und das nicht nur gegen ihre erklärten Feinde, sondern oft genug auch gegen die EU und ihre Repräsentanten selber.

Denn leider spiegelt die Realität im Detail diese hehren Worte nur unzureichend wider. Dies wird besonders im Umgang mit Russland, China und mit Afrika deutlich. Die Reaktionen auf den völkerrechtswidrigen und unmenschlichen Angriff Russlands auf die Ukraine sind zwar rhetorisch kräftig, es müssen aber nun ernsthafte Sanktionen folgen. Ob sie uns etwas kosten, muss dabei keine Rolle spielen, damit die Sanktionen glaubwürdig sind. Zu den eklatanten und permanenten Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung hört man zu wenig aus Brüssel – zumindest haben diese keine Konsequenzen hinsichtlich der Handelsbeziehungen europäischer Firmen mit China. Das Land bleibt der zweitgrößte Handelspartner der EU; wenn es nur um die europäischen Importe geht, ist das Land der größte Partner.

Auch der jüngst abgehaltene EU-Afrika-Gipfel machte einmal mehr deutlich, wie paternalistisch und kleinkariert die Europäer mit Afrika umgehen, allen vollmundigen Beteuerungen von einer Partnerschaft zum Trotz. Marktöffnungen für afrikanische Landwirte und Lebensmittelexporteure bleiben die Ausnahme, bei Impfstoffen behandelt die EU die Partner wie lästige Bittsteller, und Klimaschutz in Afrika hat gefälligst nach unseren Vorstellungen zu funktionieren. Verhandlungen mit afrikanischen Ländern, zum Beispiel zu Wirtschaftspartnerschaften (EPAs), verlaufen immer nach demselben Muster: Die Europäer geben die Regeln vor, die Afrikaner können sie annehmen oder das Vorhaben aufgeben.

Als Ergebnis dieser Vorgehensweise werden afrikanische Regierungen vermutlich ihre Zusammenarbeit mit chinesischen Partnern intensivieren, weil es mit der EU eben nicht klappt. Es dürfte wohl jedem klar sein, was das für die Durchsetzung der europäischen Werte bedeutet. Weder Politik noch Unternehmen in China interessieren sich für Umweltschutz oder Menschenrechte in Afrika. Die EU betreibt Gesinnungsethik und vergisst ihre Verantwortung.

Das scheint System zu haben. Denn im nun vorgelegten Entwurf zum Europäischen Lieferkettengesetz wird dieser Paternalismus auf die Spitze getrieben. Europäische Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten und 150 Millionen Euro Umsatz sollen verpflichtet werde, ihre gesamte Wertschöpfungskette hinsichtlich möglicher Verstöße gegen Menschenrechte oder Umweltstandards zu prüfen und gegebenenfalls die Geschäftsbeziehungen zu beenden. Andernfalls drohen Strafen, außerdem soll eine zivilrechtliche Haftung entlang der Lieferkette möglich sein. Schließlich sollen Boni für Manager daran geknüpft werden, dass die Kontrolle der Lieferkette funktioniert. Für Unternehmen, die im Textilsektor, der Agrarwirtschaft oder bei natürlichen Ressourcen aktiv sind, wird die Schwelle niedriger, nämlich bei 250 Beschäftigten und 40 Millionen Euro Umsatz liegen, weil dies Hochrisikosektoren seien. Es ist allerdings nicht einsichtig, dass eine Menschenrechtsverletzung im Hochbau weniger zählt als in der Textilindustrie.

Ohnehin leidet der Gesetzentwurf an verschiedenen Problemen. Zunächst ist es fraglich, dass europäische Standards beim Umweltschutz oder bei der später noch hinzukommenden Klimapolitik das Maß aller Dinge sind; Menschenrechte hingegen sind nicht verhandelbar, das ist korrekt. Zweitens sind für sämtliche hier angesprochenen Standards nicht Unternehmen, sondern Staaten zuständig. Drittens entsteht ein Bürokratiemonster, dass gerade kleine Unternehmen gefährdet. Viertens – und vermutlich am wichtigsten – sorgt das Gesetz dafür, dass das Risiko einer Geschäftsbeziehung mit Unternehmen aus Ländern mit geringen Standards für die europäischen Unternehmen steigt; sie ziehen sich vielleicht völlig aus den betroffenen Ländern zurück. Das bedeutet auch, dass in den betroffenen Ländern andere Partner, zum Beispiel aus China oder Russland, aktiv werden. Den Menschenrechten wäre nicht geholfen – ganz im Gegenteil.



Hinzu kommt, dass es Kosten für die Europäer selber gibt. Zunächst werden die Produkte teurer, weil die Kosten steigen – die Kontrolle und die drohende Haftung führt zu ineffizienten Lieferketten. Das gefährdet Jobs – angesichts der Schärfe der Gesetzgebung kann man von vielen gefährdeten Arbeitsplätzen in Europa ausgehen. Außerdem ist zu befürchten, dass für ausländische Unternehmen der Standort Europa uninteressanter wird, wenn sie unter das Gesetz fallen, was vorgesehen ist. Wie die Kommission dann ausländischen Spitzenunternehmen zum Beispiel in der Halbleitertechnologie locken will, dürfte dann ihr Geheimnis sein.

An dieser Stelle greift dann das nächste Problem: die Doppelzüngigkeit des ganzen Prozederes. Wenn die EU wirklich den universellen Menschenrechten zum Durchbruch verhelfen will, muss konsequent sein. Das heißt aber ganz konkret, dass wirtschaftliche Beziehungen nach Russland oder China konsequent überprüft, sanktioniert und vermutlich aufgegeben werden müssen. Einige Beispiele: Bankverbindungen nach Russland müssten gekappt werden, der Kauf von russischem Gas müsste heute beendet werden. Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar müssten ohne Verbände aus der EU stattfinden, also ohne große Fußball-Nationen wie die Niederlande, Dänemark, Italien, Frankreich, Spanien oder Deutschland. Europäische Sendeanstalten dürften keine Geschäfte mit dem Internationalen Olympischen Komitee mehr machen, europäische Sportvereine müssten sich sofort von russischen Sponsoren trennen. Europäische Autos hätten in China nichts verloren – wer kann schon sicherstellen, dass nicht ein Dissident mit einem Wagen aus Wolfsburg zur Folter in das Gefängnis gebracht wird?

So weit wird vermutlich keiner gehen – den wichtigsten Markt für die europäische Automobilbranche oder den Sport als Unterhaltung für die Massen (Stichwort Brot und Spiele) werden die europäischen Spitzenpolitiker nicht verlieren wollen. Die Wirtschaft ist ohnehin beängstigend ruhig, wenn es um den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine geht. Das lässt die Politik ihr leicht durchgehen, obwohl ein echtes Eintreten für Werte nur Sinn macht, wenn man dafür auch etwas aufzugeben bereit ist. Ansonsten klingt es eher wie Hohn. Die nächsten Wochen, wenn nicht Tage werden zeigen, wie ernst wir unsere Werte nehmen.

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Mit dem Entwurf für ein Lieferkettengesetz hat die Europäische Kommission allerdings Maß und Mitte verloren. Sie verabsolutiert europäische Werte, die sie – wenn es um die französischen Bauern oder deutsche Autobauer geht – eher geringschätzt, um kleinere und mittlere Unternehmen zu kujonieren und so Millionen Arbeitsplätze in Europa zu gefährden. Und all das findet statt, ohne dass das Klima, die Umwelt oder die Menschenrechte wirklich sicherer werden. Es droht reine Symbolpolitik mit schweren negativen Folgen. Man fühlt sich erinnert an Maßnahmen von Fundamentalisten in anderen Zeiten und Regimen – die Gesinnung steht vor der Wirksamkeit. Man kann nur hoffen, dass die Parlamente der Mitgliedsländer hier eine klare Grenze ziehen. Denn wir können uns eine doppelte Moral nicht leisten.

Mehr zum Thema: Die EU will das Lieferkettengesetz drastisch verschärfen.

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