Der nächste Problembereich ist die unglückliche und immer intensiver werdende Verquickung von Fiskalpolitik und Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion (EWU). Spätestens seit 2012 betreibt die Europäische Zentralbank (EZB) unverhohlen Fiskalpolitik und leiht den Regierungen so viel Geld zu so geringen Kosten, dass diese ihre Reformbemühungen weitgehend einstellen können beziehungsweise – wie in Deutschland – erfolgreiche Reformprojekte (vor allem Rente, aber auch Subventionsabbau) kurzerhand einstellen.
In Italien und Griechenland droht zum wiederholten Male der Kollaps, Frankreich taumelt durch die Amtszeit der Sozialisten und fiebert der Wahl entgegen. Die letzten vier Jahre kann man als verloren betrachten, der Reformdruck ist größer als je zuvor, die Unzufriedenheit ebenfalls. Sollte sich in der Wahl der Front National durchsetzen, dürften sich die Probleme der EWU entladen. Man kann dann mit einer Flucht aus dem Euro rechnen. Ob die EZB dann genügend Mittel haben wird, eine starke Abwertung und den damit verbundenen Vertrauensverlust zu verhindern, kann bezweifelt werden.
Ebenso zweifelhaft ist, ob die EZB in der Lage sein wird, einen Prozess der Inflationierung zu verhindern. Sollte sich die Geldmengenausdehnung tatsächlich direkt in Güter- und Dienstleistungsnachfrage übersetzen – und nicht wie bisher in der Nachfrage nach Kapitalmarkttiteln, dürfte das Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent schnell übertroffen werden. Dann müsste die EZB reagieren, was wiederum konjunkturbelastend und für die Regierungen teuer werden kann. Deshalb sollte die EZB bereits in 2017 anfangen, die Zinsen leicht und schrittweise zu erhöhen. So kann sie dem oben beschriebenen Szenario entgegenwirken.
Die Europäische Kommission kann diesen Prozess dadurch unterstützen, dass sie vermehrt und sichtbar auf regelgebundene Wirtschaftspolitik setzt. Das bedeutet zum Beispiel, die Regeln des Fiskalpaktes endlich einmal einzuhalten. Es bedeutet auch, konstruktive Vorschläge zu wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen zu entwerfen und den Regierungen zu unterbreiten. Es bedeutet schließlich auch den Weg der weiteren Marktöffnung für Anbieter aus Drittländern, zum Beispiel den Entwicklungsländern, aber auch Australien, Neuseeland, Kanada und hoffentlich den USA weiter zu öffnen, vor allem im Agrarsektor. Es bedeutet allerdings nicht, in visionären Papieren die Verlagerung von Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene zu verlangen.
Schließlich muss die EU eine Lösung für das Problem der Zuwanderung – seien es Flüchtlinge aus Krisengebieten oder andere Migranten – finden. Auf diesem Gebiet kann die EU tatsächlich dem Populismus begegnen, indem man eine menschliche und zugleich praktische Regel findet, wie die Wanderungen kontrolliert werden können. Denn Wanderung muss kontrolliert werden, die einreisenden Menschen müssen an den Grenzen erfasst werden, Asylverfahren müssen gestrafft werden. Die EU kann viel für ihr Image tun, wenn es gelingt, in diesem Feld Klarheit, Autorität und Sicherheit auszustrahlen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kommission wie auch nationale Regierungen rational und nicht hysterisch, nationalistisch und aggressiv auf diese Herausforderungen reagieren, ist nicht hoch. Sie müssen im Spannungsfeld unmittelbar zu lösender Probleme und langfristigem Überleben der Union agieren. Je weniger die Akteure dabei auf Symbolpolitik und Lippenbekenntnisse setzen und je pragmatischer und überlegter sie handeln, desto eher können die Probleme angepackt werden und kann die EU ein weiteres Mal gestärkt aus der Krise hervorgehen. Sie dürfte dann anders, schlanker, weniger umfassend oder sogar kleiner aussehen als heute. Solange das Ziele eines friedlichen Miteinanders in Europa erreicht wird, sollte das wahren Staatsmännern (und -frauen) egal sein.