Freytags-Frage

Wie können wir die offene Gesellschaft in Europa bewahren?

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Totalisierung der europäischen Gesellschaften

Die wirtschaftspolitische Antwort auf die Krise sorgte in der Konsequenz für eine absolute und mehr noch relative Zunahme der staatlichen Wirtschaftstätigkeit, die systematische Beugung europäischen Rechts durch den Europäischen Rat, das Europäische Parlament und die Europäische Kommission (no-bail out!?) sowie eine Verschiebung der Zuständigkeiten mit der Folge, dass die Geldpolitik nun weitaus mehr Aufgaben zu erledigen hat als vor der Krise. Ein Grundpfeiler einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung, nämlich die Geldwertstabilität, ist damit gefährdet, auch wenn es im Moment nicht so aussieht.

Mehr Staat, weniger private Wirtschaftstätigkeit und Enteignung der Mittelschicht als Ergebnis der Geldpolitik in Verbindung mit dumpfen Ressentiments gegen Fremde stellen in der Tat eine ernsthafte Bedrohung der offenen Gesellschaft dar. In Polen und Ungarn, zwei Ländern mit freiheitsliebenden und toleranten Bürgern, sind die Regierungen gerade dabei, totalitäre Strukturen einzuziehen. In Frankreich gewinnt der wenig offenen und liberale Front National bei jeder Wahl hinzu.

Die Verlierer des Jahres 2015
Otto Pérez Molina (65) Quelle: dpa
Staffan de Mistura Quelle: dpa
Silvio Berlusconi Quelle: dpa
König Salman und Angela Merkel Quelle: dpa
Tony Abbott Quelle: AP
Ignazio Marino Quelle: AP
Dilma Rousseff Quelle: dpa

Es ist also Zeit, sich Sorgen zu machen beziehungsweise darüber nachzudenken, was politisch gegen diese Totalisierung der europäischen Gesellschaften zu tun ist.

  • Eine offene Gesellschaft muss in erster Linie in offener Weise mit Gegenströmungen umgehen. Moralisieren und Ausgrenzungen zum Beispiel von Pegida-Anhängern ist das falsche Rezept. Vielmehr müssen der Dialog, die verbale und friedliche Auseinandersetzung gesucht und Überzeugungsarbeit für Offenheit und Toleranz geleistet werden. Die Argumente sind stark, sie dürfen nicht künstlich schwachgeredet werden.

  • Auf europäischer Ebene ist ein Innehalten und Nachdenken nötig. Nicht jeder Integrationsschritt ist ein echter Fortschritt. Gefragt sind vermutlich innovative Integrationsformen (zum Beispiel ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten, die Aufspaltung der Währungsunion und ähnliches). Nichts sollte sakrosankt sein (mit Ausnahme des Binnenmarktes). Der Unzufriedenheit der Bürger mit der EU beziehungsweise deren Organisationen darf nicht mit Arroganz begegnet werden, wie es in der Vergangenheit oft der Fall war. Die Auseinandersetzung mit der britischen Regierung und dem drohenden Brexit bietet dafür eine gute Ausgangsposition. Eine Neuorganisation der EU muss allerdings mit erbittertem Widerstand der „überzeugten Europäer“ rechnen, zu viel steht für sie auf dem Spiel.

  • Parallel dazu müssen die Regierungen der schleichenden Verstaatlichung der wirtschaftlichen Tätigkeiten ein Ende bereiten. Sie müssen die nötigen Reformschritte einleiten, um wieder mehr private Investitionen anzuziehen. Das mag staatliche Investitionen in Infrastruktur beinhalten, meint aber zuvorderst Deregulierung, Verwaltungsreformen, Steuerreform, Wiederherstellen der Zinsfunktion und vieles mehr. Natürlich muss nicht alles in jedem Mitgliedsland umgesetzt werden, aber der gegenwärtige – durch Niedrigzins erst ermöglichte beziehungsweise unterstützte – Attentismus ist völlig falsch.

Zusammengefasst ist es nicht zielführend, als Antwort auf die multiplen Krisen die Bürgerrechte weiter einzuschränken, die Wirtschaft noch mehr zu verstaatlichen beziehungsweise noch stärker und detaillierter in die Märkte einzugreifen und ein einfaches „Immer weiter“ in der EU zu betreiben.

Das Gegenteil ist richtig. Die offene Gesellschaft begegnet ihren Herausforderern am besten mit Offenheit und Selbstbewusstsein; dazu gehört auch, Fehler zu korrigieren. Das hat natürlich Kosten, die manchmal unerträglich scheinen. Die mit der Aufgabe der Freiheit und der Selbstbestimmung der Menschen verbundenen Kosten sind aber deutlich höher.

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