Freytags-Frage
Quelle: dpa

Warum ist die Volkswirtschaftslehre so faszinierend?

Was haben AfD-Gründer Bernd Lucke und der Wirtschaftsnobelpreis für Armutsforscher miteinander zu tun? Beide zeigen, dass die Beschäftigung mit der VWL sowohl von hoher Relevanz als auch intellektuell anregend ist.

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In dieser Woche gab es eine Reihe von interessanten Ereignissen rund um die Volkswirtschaftslehre (VWL) nicht nur, aber auch in Deutschland. Sie zeigen, wie interessant VWL ist und welche Bedeutung ökonomisches Verständnis hat. Dabei wird auch deutlich, dass ökonomisches Verständnis viel weiter geht als in den Lehrbüchern der Mikroökonomik oder der Finanzwissenschaft vorgestellt.

Was ist passiert? Zunächst begann fast überall an den deutschen Universitäten das Wintersemester, genauer gesagt die Vorlesungszeit. Somit haben auch viele Studierende der VWL ihr Studium aufgenommen oder fortgesetzt. Das ist natürlich für sich genommen nicht besonders interessant und nicht erwähnenswert.

Wie viele Kollegen wollte aber auch Bernd Lucke seine Aufgaben wahrnehmen und eine Vorlesung halten (in Makroökonomik). Dies wäre wohl seine erste große Lehrveranstaltung seit Jahren gewesen. Vor fünf Jahren wurde er als Landesbeamter und Professor in Hamburg beurlaubt, als seine Aufgaben als Abgeordneter für die sogenannte Alternative für Deutschland (AfD) begann und er ins Europäische Parlament einzog. Er wurde durch protestierende Studentinnen und Studenten daran gehindert, eine Vorlesung zu halten. Es müssen recht wüst anmutende Szenen gewesen sein, die sich im Hörsaal der Uni Hamburg abgespielt haben.

Man kann durchaus verstehen, dass der Gründer der AfD vielen Menschen nicht sympathisch ist; es ist nachvollziehbar, dass sie ihm gegenüber kritisch eingestellt sind. Insofern leuchtet es ein, dass viele Menschen mit ihm reden wollen. Es wäre allerdings viel klüger und Studierenden einer Universität, mithin einer der Wahrheit verpflichteten wissenschaftlichen Einrichtung, angemessen gewesen, ein zivilisiertes Gespräch mit Herrn Lucke zu suchen anstatt ihn am Reden zu hindern und – wenn auch zaghaft – tätlich anzugehen.

Dies ist somit eine verpasste Chance, mit Herrn Lucke über die politischen Konsequenzen einer wirtschaftspolitisch motivierten und anschließend auch aus Sicht der Gründer aus dem Ruder gelaufenen Parteigründung zu sprechen. Zur Erinnerung: Es ging Herrn Lucke und seinen Parteifreunden der ersten Stunde um die Bewältigung der Eurokrise; Fremdenfeindlichkeit stand nicht auf der Agenda. Man könnte mit ihm diskutieren, ob die damalige Politik es gerechtfertigt hat, eine Partei zu gründen, die unweigerlich auch andere Themen aufgreifen und damit Leute mit völlig anderen Vorstellungen anziehen würde. Man könnte ihm Naivität vorwerfen und argumentieren, dass jemand, der sich beruflich mit Makroökonomik und Wirtschaftspolitik befasst, diese Kaperung einer neuen Partei durch Extremisten hätte vorhersehen können. Es wäre sehr spannend gewesen zu hören, was Herr Lucke hierzu zu sagen hätte. Es hätte eine Sternstunde volkswirtschaftlichen und politischen Diskurses werden können – verpasst!

Immerhin hat es am Montag eine echte Sternstunde der VWL gegeben, als eine Entwicklungsökonomin und ihre zwei Kollegen aus Cambridge/Massachusetts, die maßgeblich an der Gestaltung der innovativen Methode der Feldexperimente im Rahmen der Entwicklungspolitik beteiligt waren, den Nobelpreis für Ökonomik zugesprochen bekommen haben. Diese Methode hat tatsächlich etliche neue Erkenntnisse über die Wirksamkeit von politischen Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung gebracht. Aber sie ist nicht unumstritten, weil es einerseits die Möglichkeit gibt, dass sich Menschen unter den Bedingungen anders als in der Realität verhalten, und es andererseits ethische Bedenken dagegen gibt, bestimmte Menschen im Experiment bevorzugt zu behandeln. Die Forschung hat allerdings Wege gefunden, diese Risiken zu minimieren. Insgesamt ist es eine sehr gute Wahl, denn die Probleme in Entwicklungsländern rücken immer mehr in den Fokus.

Auf den ersten Blick haben die beiden Ereignisse – hier die Blockade eines Professors, dort der Nobelpreis für drei andere Forscher – wenig gemeinsam. Aber sie zeigen, dass die Beschäftigung mit der Volkswirtschaftslehre sowohl von hoher Relevanz als auch intellektuell anregend ist. Ersteres zeigt sich in beiden Fällen: In Deutschland hat eine wirtschaftspolitische Maßnahme so viel Sprengstoff enthalten, dass eine Partei gegründet wurde. Die Konsequenzen dieser Gründung gehen weit über die ursprünglich beabsichtigte Wirkung hinaus. Wer Politik ohne Berücksichtigung ökonomischer Erkenntnis betreibt, muss mit negativen Nebenwirkungen (hier die Gründung der AfD) rechnen. Der andere Fall zeigt, dass in Entwicklungsländern (aber keineswegs nur dort) durch geschickt formulierte und durchgeführte Experimente die Reaktionen der Menschen auf bestimmte Anreize recht direkt getestet werden können; das ermöglicht Lehren für die Wirtschaftspolitik.

Auch intellektuelle Anregungen gehen von der Währungs- und Entwicklungspolitik aus; es gibt genug Anregungen zu spannenden Diskussionen. Allerdings können nur diejenigen sich weiterbilden, die bereit zum Dialog sind; dazu gehört es auch zuzuhören. Die Studentinnen und Studenten bei Herrn Lucke in Hamburg haben in dieser Woche gezeigt, dass sie dies nicht waren. Es wäre Ihnen zu wünschen, dass sie dazulernten und in der nächsten Makrostunde den Professor inhaltlich stellten, anstatt ihn am Reden zu hindern.

Er hat es verdient – ihn niederzubrüllen heißt nämlich auch, dass er sich nicht stellen muss. Das stärkt im Übrigen all diejenigen, die im Namen der von Bernd Lucke gegründeten Partei gegen jede Erfahrung behaupten, in diesem Land dürfe man seine Meinung nicht sagen. Diese Leute kann man nur mit besseren Argumenten überzeugen; die VWL bietet dafür reichlich Potential!

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