Freytags-Frage
Die Flaggen der europäischen Mitgliedsstaaten im Europaparlament Quelle: dpa

Warum wird die ordnungspolitische Dimension der Eurozone unterschätzt?

Mehr als 150 Wirtschaftsprofessoren warnen davor, die europäische Währungs- und Bankenunion weiter zu einer Haftungsunion auszubauen. Einer von ihnen ist unser Kolumnist.

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In dieser Woche erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein neuerlicher Ökonomenaufruf. 154 Professoren unterzeichneten ein Papier, in dem auf die Gefahren einer Haftungsunion in der Eurozone hingewiesen und eine Reihe von Maßnahmen zur langfristigen Stabilisierung gefordert werden.

Der Aufruf hat eine kleine Debatte sowohl in der Politik als auch in der Wissenschaft losgetreten. Dies ist durchaus beabsichtigt, denn die anstehenden Weichenstellungen sind zu wichtig, als dass die Politik sie in der sommerlichen Hitze und der Konzentration auf die anstehende Fußball-Weltmeisterschaft unkommentiert vornimmt und dabei die Interessen der Bürger ignoriert.

Der Text zeichnet sich durch Sachlichkeit, die Abwesenheit von Schuldzuweisungen und moralischen Apellen und eine im Grundsatz europäische Perspektive aus; das in der Debatte oft gehörte Klagen über die Sünder im Süden fehlt richtigerweise. Es geht um die Frage, ob und inwieweit die geplanten Reformmaßnahmen der Eurozone – also die Überführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus in einen Europäischen Währungsfonds, die Vergemeinschaftung der Einlagensicherungsfonds, die Einführung eines weiteren Investitionsfonds und eines gemeinsamen Finanzministers – die Haftung verwässern und so die Ordnung der Eurozone stören oder gar zerstören können. Letztlich, so die Kernbotschaft des Aufrufes, gefährden die Maßnahmen diese Ordnung und damit die gesamte Europäische Union.

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Zustimmung gab es von vielen ordnungspolitisch geschulten Politikern und der so genannten Alternative für Deutschland (AfD), die sich bestätigt sieht; das war zu erwarten. Allerdings könnte die nationalistische und anti-europäische Haltung der führenden AfD nicht weiter entfernt vom Anliegen des Aufrufs sein. Hier eine ernsthafte Sorge um den Fortbestand einer sinnvollen europäischen Ordnung, dort einige Hasardeure ohne Gewissen. Dennoch: Applaus von der falschen Seite kann kein Argument dafür sein, wichtige Anliegen nicht zu thematisieren.

Sachliche Kritik an dem Aufruf bezieht sich auf die angesprochenen Wirkungsmechanismen beziehungsweise der fehlenden Erläuterung dieser Mechanismen und das fehlende Bekenntnis zur europäischen Integration. In der Tat liest sich der Text als Kompromiss einiger Autoren, den die angesprochenen Kollegen unverändert unterzeichnen konnten (wie der Kolumnist) oder eben nicht. Allerdings ist beim genauen Lesen klar, dass der Aufruf die europäische Integration in keiner Weise in Frage stellt, dafür aber zentrale Risiken anspricht.

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Andere Kommentare sind weniger sachlich, aber auch recht putzig: Der witzigste Kritiker verwies darauf, dass man sich mal überlegen müsste, wer alles nicht unterzeichnet hat, darunter prominent er selber! Ärgerlich und ein Zeichen fehlender Sachargumente ist eine moralisch motivierte Kritik. Andere sprachen von einer Altherrenriege, die ernst zu nehmen sich quasi von selbst verböte. In der Tat sind recht viele pensionierte Ökonomen unter den Unterzeichnern, jüngere Kollegen hielten sich zurück.

Ob Alter ein Synonym für Senilität ist, muss hier nicht diskutiert werden. Vielmehr zeigt die Altersstruktur der Unterzeichner bzw. der Kritiker eher, dass die Bereitschaft und Fähigkeit, ökonomische Probleme ordnungstheoretisch, d.h. unter Berücksichtigung der Interdependenz ökonomischer Wirkungen und politischer Interessen einschließlich der Übereinstimmung von Kompetenz und Haftung zu analysieren, in der deutschen Volkswirtschaftslehre eher abgenommen hat. Wichtiger als eine ordnungspolitisch konsistente Analyse ist der Fachaufsatz im Top-Journal. Dafür helfen die Verengung der Fragestellung und die Verwendung neuester formaler Methoden. Das kann man den jüngeren Kollegen nicht zum Vorwurf machen – so funktioniert der Markt für Wissenschaftler eben.

Was man hinterfragen muss, ist die fehlende Bereitschaft, die Realität mit der Modellwelt abzugleichen bzw. zu konzedieren, dass Modelle die Komplexität der Welt nicht abbilden (können und sollen). Es fehlt auch an der Bereitschaft, das Eigeninteresse der politischen Akteure in den Blick zu nehmen. Immer noch spielt die Figur des wohlmeinenden Diktators oder des Sozialplaners eine tragende Rolle. Politische Entscheidungsträger agieren in den Modellen im politischen Vakuum, d.h. unbeeinflusst von organisierten Interessen und Eigennutz. Das kann man nur als naiv bezeichnen.

Deshalb ist ein solcher Aufruf wichtig. Er macht deutlich, dass Wirtschaftspolitik im Allgemeinen und Geld- und Fiskalpolitik im Besonderen in einer komplexen politischen Gemengelage stattfinden. Glaubt man an Lehrbücher, so sind einzelne Maßnahmen der Geld- und Fiskalpolitik in der Eurozone genauso nachvollziehbar wie die von Präsident Macron und der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Reformen zur Weiterentwicklung der Eurozone. Bezieht man die Politik mit ein, ändert sich die Perspektive. Man wird kritischer, sieht die Anreizprobleme aller Politiker (auch des deutschen Finanzministers) und fordert mehr Beschränkungen für die politischen Entscheidungsträger, also einen klaren Ordnungsrahmen.

Wie wichtig dieser ist, zeigen die ausgabenintensiven Pläne und europafeindlichen Ankündigungen der neuen italienischen Regierung und die geradezu schockierten Reaktionen aus Brüssel, Paris und Berlin dazu eindrucksvoll auf. Offenbar glauben die Akteure dort selber an die Lehrbücher. Es wird sich immer ein Modell finden, mit dem die Optimalität der geldpolitischen Maßnahmen gezeigt werden kann. Es braucht aber Modelle, die die politischen Motive und organisierte Interessen ebenso ins Kalkül einbeziehen. Der Aufruf ist übrigens vor dem Bekanntwerden der italienischen Pläne formuliert worden.

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