Die neue Europäische Kommission hatte vollmundig angekündigt, streng mit den europäischen Regierungen zu sein, wenn es um die Budgetplanung geht. Nun hat sie aber sowohl Frankreich als auch Italien einen Freifahrtschein erteilt. Trotz erheblicher Schwächen, die die Kommission noch vor wenigen Tagen kritisiert hat, gibt es keine Auflagen für die Budgets von 2015.
- Frankreich plant mit einem Defizit von 4,3 Prozent des BIP. Als Antwort auf die Kritik aus Brüssel wurden jetzt zusätzliche Maßnahmen angekündigt, die das Defizit um 3,6 Milliarden Euro senken. Es gibt keine öffentliche Aussage über die Art und Treffsicherheit der Maßnahmen.
- Ähnliches hat Italien verlauten lassen. Dort sollen 4,5 Milliarden Euro gespart werden. Immerhin liegt das Defizit bei „nur“ 2,9 Prozent des BIP. Insofern gibt es keinen offenkundigen Widerspruch zu den Kriterien, aber es kommt natürlich nicht zu einem Abbau des relativen Schuldenstandes (absolut steigen die Schulden ja ohnehin!). Auch im Fall Italiens ist nicht sichtbar, wie die Maßnahmen konkret aussehen. Möglicherweise weiß die Kommission mehr und hat Stillschweigen vereinbart. Wahrscheinlich ist das aber nicht.
Der Fiskalpakt in Zahlen
des Bruttoinlandsprodukts darf das Defizit in den nationalen Haushalten künftig maximal betragen, bereinigt um konjunkturelle Schwankungen.
mindestens müssen den Fiskalpakt durch ihre Parlamente oder Volksabstimmungen ratifizieren, damit er Anfang 2013 tatsächlich in Kraft tritt.
von 27 haben den Vertrag in einem ersten Schritt im Januar unterzeichnet – Großbritannien und Tschechien verweigern ihre Zustimmung.
möglicher Strafzahlungen an die EU überweist der Bundesfinanzminister, falls Deutschland die Regeln bricht. Den Rest schultern die Länder.
Damit steckt die neugebildete Europäische Kommission schon in den ersten Tagen ihrer Amtszeit vor dem Problem mangelnder Glaubwürdigkeit. Schon bei der ersten Belastungsprobe des Fiskalpakts erweist er sich als nicht durchsetzbar.
Man könnte allerdings zur Ehrenrettung der Kommission behaupten, dass ohnehin niemand den Fiskalpakt ernst genommen hätte – denn wieso sollte ein strengerer neuer Pakt nun eingehalten werden, wenn der Stabilitäts- und Wachstumspakt keinerlei Bindungswirkung hatte, wenn das Verbot der EZB, Staatsausgaben zu finanzieren, längst überholt ist und wenn die No-bail-out Klausel des EU-Vertrages so leichtfertig missachtet wurde.
Die Kommission wäre dieser Lesart zufolge nur ehrlich gewesen, den Fiskalpakt von Beginn ihrer Amtszeit an zu ignorieren. Diese Sicht mag zynisch sein. Aber ganz im Ernst: Haben Sie wirklich an die Bindungswirkung des Fiskalpakts geglaubt? Skepsis jedenfalls war angesagt.
Woran Frankreich krankt
In Frankreich sticht die ungünstige Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit hervor. Auch deshalb ist der Weltmarktanteil des Exportsektors des Landes deutlich gesunken; die Leistungsbilanz hat sich seit Beginn der Währungsunion kontinuierlich verschlechtert– von einem Überschuss von 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu einem Defizit von zuletzt etwa 2 Prozent. Im Durchschnitt der zurückliegenden drei Jahre hat Frankreich damit das höchste Leistungsbilanzdefizit aller Kernländer aufgewiesen. Im „Global Competitiveness Report 2012-2013“ belegt Frankreich damit nur Rang 21 von insgesamt 144 Ländern. Im Jahr 2010 wurde es mit Rang 15 noch deutlich besser bewertet.
Quelle: Frühjahrsgutachten der führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute; Commerzbank
Die Lohnstückkosten sind seit 1999 um 30 Prozent gestiegen. Die Lage heute: Während eine Arbeitsstunde deutsche Arbeitgeber 30,40 Euro kostet, fallen westlich des Rheins 34,20 Euro an. Typisch für den Niedergang sind die Autobauer. „Hier verdichten sich die Probleme Frankreichs“, sagt Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer. Das Land produziere 40 Prozent weniger Kraftfahrzeuge als 2005, Deutschland dagegen 15 Prozent mehr.
Die wirtschaftliche Entwicklung lässt kaum eine deutliche Reduzierung der Arbeitslosigkeit und der öffentlichen Verschuldung erwarten. Die Arbeitslosigkeit dürfte auf einem hohen Niveau jenseits von 10 Prozent verharren.
Noch wird die Schuldentragfähigkeit von den Anlegern nicht in Frage gestellt. Die öffentliche Verschuldung Frankreichs hat sich aber seit der Großen Rezession deutlich erhöht. Zwischen 2008 und 2012 stieg die Schuldenstandsquote um rund 25 Prozentpunkte auf über 90 Prozent. Im Jahr 2013 lag die Defizitquote mit 4,3 Prozent weiterhin deutlich über den Maastricht-Kriterien. Und auch für das Jahr 2014 wird eine diesen Wert überschreitende Quote erwartet. Damit steigt die öffentliche Verschuldung weiter.
Die private Verschuldung ist in Frankreich weniger stark gestiegen und liegt auf einem deutlich geringeren Niveau als z. B. in Irland, Spanien und Portugal. Dennoch ist Frankreich das einzige der ausgewählten Länder, in dem die private Verschuldung auch seit 2009 noch merklich zunimmt.
Hinter dieser Gemengelage verbirgt sich vermutlich ein enormes Dilemma für die Europäische Kommission. Denn es kann überhaupt keinen Zweifel geben, dass die Stabilität der Eurozone mit zunehmender Verschuldung immer weiter unter Druck gerät und sich die Zweifel an der Nachhaltigkeit der Finanzpolitik verstärken, wenn die Verschuldung zunimmt, ohne dass es zu ernsten Reformversuchen in der Europäischen Währungsunion kommt.
Das weiß die Kommission genau, das weiß auch die Bundesregierung, der nachgesagt wird, sie hätte den Bruch beziehungsweise die flexible Interpretation des Fiskalpaktes gegenüber Italien und Frankreich in Kauf genommen, um einen Konflikt mit der französischen Regierung zu vermeiden. Im Gegenzug wären der französischen Regierung Reformmaßnahmen abgerungen worden.
Zombie-Banken finanzieren Zombie-Staaten
Gleichzeitig wissen alle Beteiligten nur zu gut, dass es ohne fiskalische Disziplin überhaupt keinen ernsthaften Anreiz zu Reformen gibt. Das heißt: Die mit neuen Schulden gekaufte Zeit wird verschwendet. Ohne Reformen gibt es keine Investitionsanreize, ohne Investitionen gibt es keinen Aufschwung, ohne Aufschwung wird es auch im nächsten Jahr neue Schulden geben müssen.
Wahrscheinlich setzen die Regierungen der Problemländer Frankreich, Italien und einige andere darauf, dass die fiskalische Klemme irgendwann automatisch zu einer Fiskal- beziehungsweise Schuldenunion führt und sich die heimischen Probleme dadurch externalisieren lassen – die Steuerzahler der weniger verschuldeten und damit bedrängten Länder zahlen einfach mit, ohne dass die französische und italienische Regierung sich ernsthaft mit ihren Gewerkschaften anlegen müssen, ganz so als ob das die Lösung des Problems wäre.
Natürlich wissen die Regierungen in Rom, Paris und Berlin ganz genau, dass dies keine Lösung ist. Am Ende wären die Probleme nur ein wenig anders verteilt, und die französische Regierung hätte einen politischen Erfolg gegen das „Spardiktat“ oder das „Verschuldungsreduzierungsdiktat“ aus Berlin erzielt. Eine Wahlperiode wäre wahrscheinlich gesichert. Danach sähe es vermutlich noch schlimmer aus, nur dieses Mal auch in Deutschland.
Anders seht man die Schuldenunion in Berlin, Solidarität hin oder her. Damit ist das Dilemma der Bundesregierung angesprochen. Sie kann einer Schuldenunion nicht zustimmen, weil sie damit rechnen muss, dass die Wähler sich noch stärker als bisher der AfD zuwenden würden. Diese hätte nämlich dann Recht behalten mit der These, dass die Eurozone für Deutschland ein Vabanquespiel sei. Das kann die Bundesregierung nicht zulassen, was wiederum in Rom und Paris mit Sicherheit kein Geheimnis ist.
So bleibt nur, weiterhin auf Pump zu konsumieren und der Europäischen Zentralbank die undankbare Aufgabe zuzuschieben, diesen Pump zu finanzieren, entweder direkt, was sie bislang noch vermeiden konnte, oder indirekt über die Banken (die sich von jetzt an ja angenehmerweise selber reguliert). Zombie-Banken finanzieren Zombie-Staaten!
So wie es jetzt aussieht, ist der Fiskalpakt nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt wird. Er wird vermutlich auch in Zukunft nicht durchgesetzt werden. Stattdessen dürfte das Elend weitergehen. Strukturwandel würde so unterdrückt werden, und die Hälfte der Alterskohorte zwischen 15 und 35 würde ohne Aussicht auf eine angemessene Teilhabe am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben aufwachsen.
Die Europäische Kommission und die Bundesregierung werden vermutlich gezwungen sein, dieses Spiel noch eine Weile mitzuspielen. Oder sie riskieren doch den Konflikt und versuchen, geltendes Recht durchzusetzen. Die nächste Generation würde es Ihnen danken.