Freytags-Frage

Was passiert nach dem Brexit?

Nach einem Brexit gäbe es zwei Szenarien: Die Wirtschaft leidet, Schottland wird unabhängig – Großbritannien ist der große Verlierer. Oder: Die EU und Großbritannien erfinden sich neu – der heilsame Brexit. Was ist wahrscheinlicher?

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Ein Mann dekoriert sein Geschäft für den Besuch der britischen Königin Elizabeth II. mit dem Union Jack und deutschen Fahnen. Quelle: dpa

Was passiert eigentlich nach dem Brexit? Während die Befürworter ein strahlendes Bild eines wieder großen Britanniens zeichnen, entwerfen die Gegner des Brexit ein ganz anderes, sehr düsteres Szenario. Die Renten wären gefährdet, Finanzakteure wanderten ab, die Mitgliedschaft im Binnenmarkt sei verloren, um nur einige Beispiele zu nennen. Ohnehin wählen die Gegner des Brexit, zumal die nicht-britischen, eine recht raue Tonart und drohen mit unerbittlicher Härte im Falle des Brexit.

Abgesehen davon, dass eine Drohung von außen vermutlich nicht besänftigend auf diejenigen wirkt, die in Brüssel einen Leviathan sehen, müsste die EU auch mit einem Großbritannien außerhalb der EU einen gepflegten Umgang betreiben – schon im eigenen Interesse. Überhaupt hilft vielleicht ein etwas emotionsloser Blick weit mehr als die ständige Aufgeregtheit aller Beteiligten.

Die bekanntesten Brexit-Gegner und -Befürworter
 Christine Lagarde Quelle: dpa
David Cameron Quelle: REUTERS
George Osborne Quelle: REUTERS
 Jean-Claude Juncker Quelle: REUTERS
Michael Gove Quelle: REUTERS
Donald Trump Quelle: AP
Barack Obama Quelle: AP

Besser ist eine Analyse der möglichen Wirkungen eines Brexit sowohl für Großbritannien als auch für die EU; möglicherweise sogar für die Weltwirtschaft. Zwei recht extreme Szenarien (aus vielen denkbaren) könnten die folgenden sein; man bedenke dabei, dass Szenarien nicht unbedingt realistisch sein müssen; es werden auch keine Wahrscheinlichkeiten angegeben. Es handelt sich um reine Gedankenexperimente.

Erstens: Nach dem Ausscheiden Großbritanniens verhärten sich die Fronten zwischen dem Land und Großbritannien. Dies hat Konsequenzen in Großbritannien und der Rest-EU; beginnen wir mit Großbritannien.

Die Handelsbeziehungen werden erschwert, da die vier Freiheiten des Binnenmarktes, also die freie Wanderung, der frei Dienstleistungs- und Güterhandel sowie der freie Kapitalverkehr, gegenseitig aufgekündigt werden. Großbritannien muss alle Freihandelsabkommen, in die es kraft seiner EU-Mitgliedschaft eingebunden war, neu verhandeln und verliert den präferierten Marktzugang zu zahlreichen Märkten (auch im Commonwealth).

  • Großbritannien wirft daraufhin die polnischen und anderen Gastarbeiter aus dem Land und muss feststellen, dass die Dienstleistungssektoren, in denen diese Arbeitnehmer beschäftigt sind, also unter anderem Bau, Pflege, Tourismus, in echte Schwierigkeiten geraten. Leider können die aus Spanien wieder nach Großbritannien zurückgeschickten britischen Rentnerheere diese Lücke nicht füllen. Stattdessen steigt die Unzufriedenheit auf der Insel – Wähler werden leichte Beute für Nationalisten wie UKIP.

  • In London entspannt sich der Immobilienmarkt, weil die Finanzindustrie nach Dublin, Frankfurt und Paris abwandert. Die nicht besonders wettbewerbsfähige britische Industrie verliert an Boden, allerdings wird dieser Effekt durch ein schwaches britisches Pfund ausgeglichen. Dies heizt aber die Inflation an.

  • Die britischen Universitäten verlieren Studierende in Massen, da nun die bevorzugte Behandlung von EU-Ausländern entfällt und die vollen Studiengebühren fällig werden. Wie es für die vielen an britischen Universitäten lehrenden Professoren und Forscher aus Europa, darunter viele Deutsche, weitergeht, ist offen. Bleiben die Studierenden aus, verlieren sie vermutlich ihre Jobs.

  • Schließlich tritt Schottland aus dem Vereinigten Königreich aus und beantragt die Vollmitgliedschaft in der EU. Der Austritt Schottlands verschlechtert die wirtschaftliche Lage dort wie auch in England, Wales und Nordirland weiter.

Die Konsequenzen gerade der Teilung Großbritanniens sind auch in der EU spürbar, wie man erkennt, wenn man sich die potentiellen Folgen für die Europäische Union anschaut.

  • Nicht nur, dass andere EU-Mitglieder unzufrieden werden und die Ausstiegsoptionen wählen, klingt bedrohlich. Auch erscheint dann die Gefahr einer Abspaltung von Regionen (Katalonien, Baskenland, Tirol?) real. Insgesamt werden die dumpfen Nationalisten an Zulauf gewinnen.

  • Das Fehlen Großbritanniens verschiebt das Gleichgewicht weg von der liberalen, westlichen Werteordnung hin zu mehr Interventionismus und Vergemeinschaftung sowie zu mehr Gemeinschaftshaftung. Der Streit wird nun nicht kleiner, sondern – auch ohne den britischen „Streithansel“ – größer, weil gerade die Menschen in den eher marktwirtschaftlich orientierten Ländern des „Nordens“ sich nun übervorteilt sehen. Die Wertegemeinschaft droht vom Verteilungskonflikt verdrängt zu werden.

  • Auch wirtschaftlich droht der Wegfall einer tragenden Säule der EU den Wohlstand zu gefährden, zumal es nun auch für Unternehmen aus Drittländern weniger attraktiv wird, im EU-Binnenmarkt zu investieren.

Szenario 2: Die Europäische Währungsunion vermisst sich neu

Im Szenario 1 gibt es nur Verlierer, denn auch für den Rest der Welt ist ein noch weiter geschwächtes Europa nicht von Vorteil. Allerdings muss es ja nicht zu diesem Negativszenario kommen. Man könnte sich auch vorstellen, dass die Europäer aus dem Brexit lernen und gemeinsam das „Europäische Haus renovieren“. Das zweite Szenario könnte wie folgt aussehen.

Was Partnerländer über einen EU-Ausstieg denken
US-Präsident Barack Obama in London Quelle: AP
Die chinesische Flagge vor einem Hochhaus Quelle: dpa
Ein paar Rial-Scheine Quelle: dpa
Der russische Präsident Wladimir Putin Quelle: REUTERS
Das Logo des japanischen Autobauers Nissan Quelle: REUTERS

In der EU sieht man ein, dass es nicht reicht, nur ständig die Wertegemeinschaft zu beschwören, ansonsten aber die Regeln permanent zu missachten. Die EU reorganisiert sich und konzentriert sich auf das Kerngeschäft, den Binnenmarkt. Umverteilungsprogramme und Regulierungen werden eingeschränkt. Die Kommission tritt insgesamt bescheidener auf, nimmt das Prinzip der Subsidiarität ernst und reduziert ihr Budget.

  • Die Agrarpolitik wird reformiert; Außenbarrieren werden abgebaut, und die Subventionierung der Landwirtschaft läuft langsam, aber stetig aus. Die Handelspolitik wird wieder offener, die EU bekennt sich zur WTO und konzentriert sich auf den Abschluss der Doha-Runde. Dann wird der britische Austritt auch nicht so verheerende Wirkungen haben. Widerstand gegen Freihandel in der Öffentlichkeit nimmt langsam ab, weil Anbieter aus Entwicklungsländern in Europa besser als Fuß fassen können.
  • In die Flüchtlingsfrage kommt eine ungewohnte Dynamik. Im Lichte der ökonomischen Erfolge dank der Verschlankung der EU einigen sich die Mitglieder auf eine belastbare Regel (Schengen mit wirksamem Schutz der Außengrenzen und einer nachvollziehbaren Quotenregel). Es wird zudem an einem überzeugenden Einwanderungskonzept auf nationaler Ebene mit internationaler Koordinierung gearbeitet. Großbritannien schaut neidisch auf den Kontinent, wo die Integration der Migranten sich stetig verbessert.
  • Die nationalen Regierungen missbrauchen die Europäische Kommission nicht länger dazu, die Wünsche der Partikularinteressen in den Ländern durchzusetzen und dabei gleichzeitig auf „die da in Brüssel“ zu schimpfen. Jahrzehntelang haben die Mitglieder mit dieser Praxis dazu beigetragen, das öffentliche Image der Kommission zu verschlechtern. Dabei ist die Kommission keineswegs das bürokratische Ungetüm. Als das sie oft verkauft wird.
  • Die Europäische Währungsunion wird neu vermessen; es gibt die Möglichkeit, sie temporär zu verlassen. Von dieser Möglichkeit macht Griechenland Gebrauch und beginnt bereits nach zwei Jahren zu florieren. Der Euro ist keine Religion mehr, sondern wird zu einer von mehreren Währungen in der Eurozone.

Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa

Insgesamt kommt die EU leichter und flexibler daher; die Menschen beginnen die europäische Integration wieder wertzuschätzen. Die Nationalisten verschwinden langsam. Großbritannien kann ebenfalls das Schlimmste vermeiden:

  • Das Land verbleibt im Binnenmarkt. Damit bleiben die Briten auch in allen Freihandelsabkommen der EU.
  • Für die in Großbritannien lebenden EU-Ausländer gelten die bisherige Regeln. Für neu Hinzuziehende werden Regeln verhandelt, die die Allokation auf dem Arbeitsmarkt nicht stören und auch keine unzumutbaren Wanderungshemmnisse bilden.
  • Die Verluste auf der britischen Insel sind insgesamt sehr moderat, der Finanzsektor verbleibt in London. In dem neuen Setting kann sich die britische Regierung sogar mit der EU und der Eurozone sogar auf eine gemeinsame Finanzmarktregulierung einigen.
  • Schottland tritt nicht aus.

Die neue Leichtigkeit der EU überzeugt auf dem gesamten Kontinent, und die EU gewinnt an Zustimmung – Großbritannien tritt 2025 wieder ein!

Beide Szenarien sind übertrieben und dienen ausschließlich der Veranschaulichung möglicher Probleme und Lösungsmöglichkeiten. Auf jeden Fall machen sie deutlich, dass ein Konfrontationskurs zwischen den Briten und der EU niemandem hilft.

Ganz im Gegenteil: Die Briten sollten erkennen, dass ihnen die Mitgliedschaft in der EU nicht schadet und den Brexit krachend abschmettern. Und die politischen Entscheidungsträger in der Europäischen Union sollten erkennen, dass die EU stark reformbedürftig ist – dabei könnte durchaus ein „Weniger“ anstelle eines „Mehr“ an Europa herauskommen. Wäre das wirklich so ein Drama?

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