Studenten der Volkswirtschaftslehre lernen früh, dass es in der Wirtschaftspolitik ein sog. Assignment-Problem gibt. Damit ist die Aufgabe gemeint, dem einzelnen wirtschaftspolitischen Zielen Instrumenten und Verantwortliche zuzuordnen. Die Lösung kann rein logisch nur widerspruchsfrei gelingen, wenn es genauso viele Ziele wie Instrumente gibt. Also: Wenn wir Preisniveaustabilität, Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum anstreben, brauchen wir drei Instrumente. Diese könnten Geldpolitik, Tarifpolitik und Fiskalpolitik sein.
Dabei liegt es nahe, der Geldpolitik für die Inflationsbekämpfung zu nutzen. Und es ist richtig, dass die EZB – wie zuvor die Deutsche Bundesbank und zum Teil erfolgreicher als diese – in den letzten Jahren dieses Ziel erreicht hat. Inflation in der Eurozone ist seit ihrer Gründung sehr niedrig gewesen. In Deutschland dauert diese Phase der relativen Preisniveaustabilität jetzt schon rund 65 Jahre an, und die Deutschen haben die Vorteile niedriger Inflation sehr zu schätzen gelernt. Die Phasen davor sowie vielfältige Erfahrungen aus Hochinflationsländern haben gelehrt, wie verheerend Inflationsprozess wirken.
Eigentlich sollte das Politikern und Bürokraten auch einleuchten, zumal wenn sie sich als Sachwalter der Bevölkerung verstehen. Dennoch sind diese Fokussierung und der damit verbundene Erfolg der Geldpolitik keineswegs selbstverständlich. Dies lehrt die Praxis der vergangenen Jahrtausende. Geldpolitik war auch immer ein Instrument der Regierenden, andere Ziele zu erreichen. Dahinter steht vor allem die mangelnde fiskalische Disziplin. Die Geschichte der Inflation ist schrecklich und faszinierend zugleich. Immer wieder haben Regierungen – und zwar unabhängig davon, ob es sich um demokratische oder autokratische Regierungen handelt – mit allen Mitteln versucht, den Geldwert zu reduzieren. Natürlich geht dies im Papiergeldstandard viel leichter, als wenn Edelmetall als Währung verwendet wird.
Ein gutes frühes Beispiel bietet die Entwicklung des Währungssystems im Römischen Reich von der Einführung der Münzen im dritten vorchristlichen Jahrhundert bis hin zur Auflösung des Reiches. Die permanente Kriegsführung Roms und der teure Lebensstil der Konsuln in Verbindung mit deren hohen Aufwendungen, um das Amt überhaupt zu erringen, führte einerseits dazu, dass viel Gold – zumeist als Kriegsbeute – importiert wurde und dass andererseits der Edelmetallanteil der umlaufenden Münzen beständig verringert wurde. Zwischen 14 n.Chr. und 275 n.Chr. sank der Feingehalt des Denars von 97 Prozent auf 2 Prozent.
Auf diese Weise wurden die Schulden weginflationiert, natürlich mit der Folge sozialen Elends. Die Regierenden versuchten, diesem Problem mit Höchstpreisen Herr zu werden. Die Folgen in Rom waren die Verarmung breiter Massen und hohe Vermögensverluste ehemals reicher Patrizier, was oftmals auch in Gewalt und Chaos mündete.
In den letzten zweitausend Jahren hat sich die Geschichte permanent wiederholt. Im heutigen Venezuela, dem Land mit der gegenwärtig höchsten Inflationsrate, sehen wir ähnliche Verwerfungen. Hier zeigt sich recht klar, wie ein Teufelskreis aus Inflation und Chaos in Gang gesetzt werden kann.
Es droht die Enteignung der Mittelschicht
In den 1990er Jahren schien es allerdings, als ob die Menschheit das Problem endlich verstanden hatte. Überall auf der Welt wurde die Geldpolitik institutionell von der Tagespolitik getrennt, und den Notenbanken wurde untersagt, den Regierungen Geld zu leihen. Es gab klare Regeln über das Verhältnis zwischen der Zentralbank und dem Parlament bzw. der Regierung. Die Zentralbankunabhängigkeit stieg überall stark an.
Eine der unabhängigsten Zentralbanken der Welt ist die EZB. Ihr vorrangiges Ziel ist die Inflationsbekämpfung, und das Monetesierungsverbot, also das Verbot der Kreditvergabe an Regierungen ist völkerrechtlich vereinbart. Die Direktoren müssen Experten sein. Mehr geht nun wirklich kaum.
Das alles hält die EZB nicht davon, sich von ihrem Mandat zu entfernen und sich wachstumspolitisch und fiskalpolitisch zu betätigen. Offiziell mit dem angesichts der Notwendigkeit der Kostensenkungen im Süden der Eurozone wirklich lächerlichen Argument, Deflation zu verhindern die Preisniveaustabilität zu sichern, betreibt die EZB nun schon seit Jahren eine laxe Geldpolitik mit Niedrigzinsen und offener wie verdeckter Staatshaushaltsfinanzierung. Letztere findet statt, indem die Banken das billige Geld eben nicht an die Privatwirtschaft zur Finanzierung weitergeben, sondern damit Staatsanleihen kaufen. Somit dient die Geldpolitik nicht der Preisniveaustabilität (und auch nicht der Stimulierung der Investitionen im Süden), sondern der Finanzierung unsolide gerechneter Haushalte und der Verschleppung von politisch riskanten, langfristig aber unabdingbaren Reformen.
Die gestrigen Entscheidungen der EZB treiben diese Entwicklung noch voran. Es wird ein Kreditprogramm für Banken von bis zu 400 Milliarden soll in Südeuropa zusätzliche Investitionen anregen; vermutlich wird nicht viel passieren, denn ohne wirtschaftspolitische Reformen lohnen Investitionen in Südeuropa offenbar nicht. Diese Geldmengenausweitung in Verbindung mit der erneuten Zinssenkung hilft vor allem den Finanzministern, die sich nun noch billiger verschulden können. Die Wirtschaft wird nicht in Schwung kommen, und die Regierung können sich vor Reformen drücken. Die zusätzlich vorgesehenen Strafzinsen für Banken sind riskant, weil sie wie ein Keil wirken können, der dann Kreditkosten erhöht oder Sparzinsen weiter senkt. Die Verlierer sind wieder die Sparer, was die EZB nach eigener Aussage nicht kümmert; Sparzinsen seien Sache der Banken! Die EZB riskiert nicht weniger als die Funktionsfähigkeit des Finanzsektors, und dies im dienste der europäischen Finanzminister. Von einer unabhängigen Europäischen Zentralbank zu sprechen, klingt wie Hohn!
Dabei ist das Wissen um die Konsequenzen derartiger Politik vorhanden. Das Beispiel Japan zeigt klar, wohin die Perpetuierung solcher Politik führt. Die permanente Ausdehnung der Geldmenge hat das Problem fallender Preise nicht beheben können. Eine ganze Generation lang hat dieses Land niedriges Wachstum und verschleppten Strukturwandel erfahren – und dies begleitet von immer steigender Staatsverschuldung.
Und sollte die Geldmengenentwicklung gar den politisch gewünschten Effekt – höhere Inflation – erzielen, droht eine weitere und schnellere Enteignung der Mittelschicht in Europa. Welche Konsequenzen dies für die Gesellschaft hat, zeigt das Beispiel Lateinamerikas, besonders Argentiniens. Dort hat es nicht einmal zwei Generationen lang den Missbrauch der Geldpolitik benötigt, um ein wohlhabendes, zukunftsträchtiges Land in ein Entwicklungsland zu verwandeln.
Insofern scheint sich nichts geändert zu haben – Geldpolitik ist aus Sicht der politischen Eliten offenbar immer noch vorrangig dazu da, Brot und Spiele zu finanzieren und die Haushaltsprobleme von schwachen und nur an der kurzen Frist interessierten Regierungen zu finanzieren. Wenn es ganz schlecht läuft, behalten diejenigen Recht, die die Periode der Zentralbankunabhängigkeit für ein kurzes historisches Zwischenspiel halten. Für die Bevölkerung in Europa – nicht nur in Deutschland – wäre dies ein Trauerspiel.
Deshalb muss alles dafür getan werden, damit die Geldpolitik wieder auf das einzig relevante Ziel, den Erhalt der Preisniveaustabilität, eingeschworen wird. Hier sind alle gefordert – Wissenschaftler, Bundesbank, Verbraucherschützer, Gewerkschaften und die Wirtschaft.