Freytags-Frage
Merkel und Macron Quelle: AP

Wie begreift sich Europa?

Europa hat eine Menge Probleme anzugehen. Doch zuerst stellt sich die Frage: Mehr Europa oder weniger? Die Antwortet lautet: Schwärmerei und Folklore sind nicht die Rezepte der Zukunft. Was dann?

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Die europapolitische Diskussion innerhalb der Bundesrepublik aber auch über den gesamten Kontinent bewegt sich in Zirkeln. Alle Sichtweisen und Argumente scheinen ausgetauscht zu sein. Dennoch werden alle Positionen immer wieder hervorgeholt und teils gebetsmühlenartig vorgetragen. Auch in anderen Bereichen hat sich wenig geändert: Eine skeptische Haltung gegenüber der Vertiefung der europäischen Integration ordnen die einen noch immer als rückwärtsgewandt und nationalistisch ein. Und bei den anderen heißt es: Die Europäische Union (EU) sei eine moderne Sowjetunion.

In der Politik kann man weiterhin fast ausschließlich „überzeugte Europäer“ oder „Europafeinde“ wahrnehmen. Zwischentöne sind sowohl bei Befürwortern als auch bei Skeptikern kaum zu hören; sie werden regelmäßig durch Lautstärke übertönt.

Im Moment geht es mal wieder hauptsächlich um mehr oder weniger Geld für die EU. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die glauben, die gegenwärtigen Probleme lassen sich mit einer weiteren Vertiefung der Integration, vor allem aber mit größeren europäischen Budgets und Fonds lösen. Sie führen die Aufbruchsstimmung an, die der französische Präsident erzeugt, und meinen, man könne ihn jetzt mit seinen Vorschlägen nicht im Regen stehen lassen.

In Berlin suchen Angela Merkel und Emmanuel Macron eine gemeinsame Linie für die EU-Reform. Über Absichtserklärungen kommen die Staatschefs nicht hinaus – und gefährden so die Ökonomie der EU.
von Thomas Schmelzer

Ihnen gegenüber haben sich diejenigen positioniert, die der Auffassung sind, es gehe dem Präsidenten – wie vielen sogenannten Südländern – nur darum, deutsches Geld zu verausgaben und – wie einige Verschwörungstheoretiker glauben – die Deutschen kleinzuhalten. Sie fürchten vor allem die Transferunion. Diese Debatte ist somit zunächst verteilungspolitisch motiviert – es werden die Deutschen gegen die Franzosen in Stellung gebracht. Dies ist Unsinn, weil es erstens nationalistische Motive anspricht (und gerade deshalb die europäische Flughöhe verfehlt) und weil zweitens sowohl Präsident Macron als auch Kanzlerin Merkel wichtige Themen auf die Agenda gesetzt haben, die man auch unabhängig von der Frage, wer wieviel Geld in welchen Topf zu zahlen hat, angehen muss.

Für Herrn Macron sind die Lösung des Flüchtlingsproblems – einschließlich eines effektiven Außenschutzes, eine europäische Sicherheitsarchitektur und gemeinsame Bildungspolitik – Themen mit Priorität, während Frau Merkel sich um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft sorgt. Man kann beides gut verbinden und dafür durchaus auch etwas Geld in die Hand nehmen.

Wenn man beispielsweise Reformen auf dem französischen Arbeitsmarkt dadurch ermöglicht, dass Deutschland einen überproportionalen Anteil an den Ausgaben für einen effektiven Schutz der Außengrenzen übernimmt, können sowohl Herr Macron als auch Frau Merkel damit bei den Wählern punkten: Macron hat deutsche „Solidarität“ bekommen; Merkel Sicherheit an den Außengrenzen.

Eine rationale Perspektive auf die Zukunft der EU nimmt ohnehin die Anreizstrukturen der Akteure in den Blick. Die schlichte Lösung, mehr Geld für europäische Entscheidungsträger bereitzustellen, hat mindestens zwei negative Anreizwirkungen: Erstens wird deren Reformeifer und Effizienzstreben gemindert, zweitens bekommen die antieuropäischen Populisten Oberwasser. Beides ist weder nötig noch hilfreich. Insofern wäre eine schlichte Aufstockung von Zahlungen oder ein neues Budget für Europa (ohne regelmäßige Kontrolle durch nationale Parlamente) Gift für die europäische Integration.

Ähnliches gilt zum Beispiel für die Vereinheitlichung der Einlagensicherungsfonds innerhalb der Eurozone ohne Rücksicht auf den Zustand der Banken in unterschiedlichen Ländern. Gleiche Regeln für alle Banken in der Eurozone stellen kein Problem dar, aber eine Umverteilung von den gewissenhaft arbeitenden Banken zu sehr risikofreudigen und deshalb gefährdeten Instituten wäre der falsche Schritt und würde wieder nationale Befindlichkeiten aufstacheln.

Richtig ist es hingegen, in Kompromissen, die wie oben gezeigt auch mit Zahlungen verbunden sein können, tatsächliche Lösungen für tatsächliche Probleme zu finden. Dabei müssen die Anreize der Beteiligten, gerade auf nationaler Ebene, unbedingt beachtet werden. Folgende Fragen scheinen drängend zu sein.

Wie wird Europa fit für die Anforderungen einer zunehmend digitalen Wirtschaft? Wie können die Außengrenzen wirksam geschützt werden, ohne dabei humanitäre Positionen zu räumen? Wie soll die EU mit den „Dissidenten“ aus Polen und Ungarn umgehen, so dass beide Seiten das Gesicht nicht verlieren und die Integration keinen Schaden erleidet? Wie kann das Gewicht der europäischen Union in der Weltpolitik so gestärkt werden, dass europäische Sicherheits- und Handelsinteressen gewahrt bleiben.

Dies sind die Herausforderungen der Zukunft; mit diesen Themen beziehungsweise deren Lösungen kann die EU an Zustimmung und Nachhaltigkeit gewinnen. Kleinteilige Verteilungsdebatten und das Verweigern von Grundsatzdebatten nach dem Motto: „Wer nicht für exakt dieses Europa ist, ist gegen Europa!“ sind für die Akzeptanz der EU in der Bevölkerung sicherlich hinderlich. Wenn die EU Lösungen für Alltagsprobleme der Mehrheit bietet, steigen die Akzeptanz der EU und die Bereitschaft, mehr Geld nach Brüssel zu überweisen, wieder. Schwärmerei und Folklore sind nicht die Rezepte der Zukunft.

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