Das kommende Jahr wird für die Europäische Union (EU) ein sehr wichtiges. Zahlreiche Herausforderungen stehen an, die jede für sich genommen bereits eine Herkulesaufgabe darstellt.
Da ist zunächst der Brexit, also der Austritt Großbritanniens aus der EU, der möglichst reibungslos zu organisieren ist. Die Staatsschuldenkrise der südlichen Länder bleibt ein Dauerbrenner; besonders hervorstechend sind Italien und Griechenland. Der Geldpolitik stellt sich vor diesem Hintergrund eine Daueraufgabe. Sie muss den Spagat zwischen Inflationsvermeidung und fiskalischen Ansprüchen reformunwilliger Regierungen weiter betreiben, und dies in einem rauer werdenden weltwirtschaftlichem Klima.
Sollte in Frankreich die Front National die Wahl gewinnen, droht gar eine Auflösung der EU, zumindest eine dramatische Neudefinition ihrer inneren und äußeren Beziehungen. Dies gilt vor allem für die Wanderungsströme und etwas nachrangig für die handelspolitischen Initiativen der EU (keineswegs nur die transatlantischen), die die Kommission zum erfolgreichen Abschluss führen will. Schließlich wird der antidemokratische Schub in Ungarn und Polen die EU weiter beschäftigen. Also steht ein spannendes Jahr bevor.
Fangen wir mit dem Brexit an. Zur Zeit scheint niemand zu wissen, wie der Austritt Großbritanniens aussehen wird, schon gar nicht die britische Regierung. Neben den prozeduralen Fragen ist zu klären, wie der durchaus intensive Außenhandel zwischen dem Kontinent und der britischen Insel möglichst wenig gestört wird, wenn die Briten weiterhin darauf bestehen, die Freiheit der Migration innerhalb der EU für sich abzuschaffen. Soll die EU die Teilnahme am Binnenmarkt für Großbritannien an die Beibehaltung dieser Freiheit knüpfen, also Härte zeigen? Oder soll sie im Interesse der wirtschaftlichen und damit letztlich auch sozialen Beziehungen den Binnenmarkt an dieser Stelle entflechten, also eine Beteiligung á la carte zulassen? Welche Konsequenzen hat dies für das Verhalten anderer Mitglieder?
Der Brexit ist also nicht nur für die Beziehungen der EU zum Vereinigten Königreich von Bedeutung, sondern stellt auch die Weichen für die internen Beziehungen innerhalb der Union. Dabei sind die Verhandlungen wirklich komplex. Eine strenge Haltung dient zwar einerseits als Drohung für andere Mitglieder, kann aber andererseits dafür sorgen, dass die Unzufriedenheit mit der EU wächst – immer wieder spielen Politiker mit dem „Diktat aus Brüssel“ als Begründung für nationalistische Politiken oder Vorschläge. Eine permissive Haltung der 27 verbleibenden Mitglieder wiederum kann das Ziel der “Ever closer Union“ gefährden und der Mitgliedschaften mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten den Weg öffnen.
Die fünf großen Baustellen der EU
Die Folgen des globalen Finanzbebens 2008 spalten Europa bis heute - wirtschaftlich und politisch. Während europäische Statistiker für Deutschland zuletzt auf 4,2 Prozent Arbeitslosigkeit kamen, waren es für Griechenland 23,5 Prozent. Das überschuldete Land will finanzielle Freiräume, um die Wirtschaft anzukurbeln. Bei einem Südgipfel holte sich Athen jetzt Rückendeckung von Italien und Frankreich. Nicht nur deutsche EU-Politiker fordern strikte Sparsamkeit und reagieren gereizt. Aber auch Österreichs Bundeskanzler Christian Kern meint, der Sparkurs sei die eigentliche Ursache für die zunehmend antieuropäische Stimmung.
Der Zustrom von Hunderttausenden reibt die Gemeinschaft politisch auf. Hier verlaufen die Risse nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Ost und West. Beschlossen ist eine Verteilung von bis zu 160.000 Asylsuchenden aus den Anlandestaaten Italien und Griechenland in der EU. Erledigt waren aber bis Juli gerade einmal gut 3000 Fälle - 2213 Schutzsuchende aus Griechenland und 843 weitere aus Italien.
Die EU-Kommission drängelt, doch vor allem die Visegrad-Staaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen weigern sich. Stattdessen verlangen sie schärferen Grenzschutz. Das trieb nun offenbar Asselborn zu seiner Breitseite gegen die Regierung in Budapest. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der „Welt“ (Dienstag). Die Grenzzäune würden immer höher. „Ungarn ist nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge.“
Die islamistischen Anschläge in Frankreich, Belgien und zuletzt auch in Deutschland haben Lücken bei Absprachen und Austausch offenbart. Die Verunsicherung ist groß, die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit laut. Und es gibt Querverbindungen zum Flüchtlingsstreit: Vor allem nach den Anschlägen eines mutmaßlichen Afghanen in Würzburg und eines Syrers in Ansbach im Juli sehen sich die Gegner eines großzügigen Asyls bestätigt. EU-Ratspräsident Donald Tusk fordert jetzt eine lückenlose Erfassung aller, die in die EU einreisen.
Die vielfältigen Krisen schwelen seit langem, doch es war das Votum der Briten für ein Ausscheiden aus der EU vom 23. Juni, das daraus eine Existenzkrise für die Union machte. Wird der Ausstieg tatsächlich vollzogen, verliert die Gemeinschaft ihre drittgrößte Wirtschaftskraft, den zweitgrößte Nettozahler und ein diplomatisches Schwergewicht im UN-Sicherheitsrat. Sie wird also kleiner und schwächer. Vor allem aber macht der Schritt EU-Gegnern allerorten Mut, auch in den Gründerstaaten Niederlande, Frankreich und Italien. Denn bei allen Sollbruchstellen scheint die EU fast gespenstisch geeint in populistischer Feindseligkeit gegen Brüssel.
Die simple These, die Eurokraten seien verantwortlich für alles Übel auf dem Kontinent, überdeckt einen Machtkampf der Institutionen: Was darf die EU-Kommission bestimmen? Wie viel Einfluss hat das Parlament? Und worüber entscheiden allein die Einzelstaaten? Über möglichst viel, meinen die Osteuropäer. Die Kommission solle sich zurückhalten, denn die „wirkliche Legitimität“ liege bei den Mitgliedsländern und Parlamenten, sagt Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka. Wie nervös die EU-Exekutive ist, zeigt der Streit um die Abschaffung der Roaming-Gebühren: Nach Murren aus Parlament und Mitgliedstaaten kassierte Kommissionspräsident Juncker flugs den Plan, die Streichung der Zusatzgebühren für Handytelefonate im EU-Ausland auf 90 Tage zu befristen.
Ist dies ein Problem? Wie an dieser Stelle bereits mehrfach argumentiert, ist das Ziel der immer engeren Union keineswegs sakrosankt. Offenbar haben viele Menschen – aus welchen Gründen auch immer – davor Angst und wollen lieber viele Politikbereiche in nationaler Zuständigkeit verbleiben sehen. Insofern plädiere ich hier für eine ergebnisoffene Verhandlung; ich schließe mich auch der Forderung von Hans-Werner Sinn an, die Brexit-Verhandlungen dazu zu nutzen, zeitgleich die Europäischen Verträge komplett neu zu verhandeln. So kann die EU das Heft des Handelns selbst in der Hand behalten und wird nicht von den Populisten getrieben.
Pragmatismus statt Symbolpolitik
Der nächste Problembereich ist die unglückliche und immer intensiver werdende Verquickung von Fiskalpolitik und Geldpolitik in der Europäischen Währungsunion (EWU). Spätestens seit 2012 betreibt die Europäische Zentralbank (EZB) unverhohlen Fiskalpolitik und leiht den Regierungen so viel Geld zu so geringen Kosten, dass diese ihre Reformbemühungen weitgehend einstellen können beziehungsweise – wie in Deutschland – erfolgreiche Reformprojekte (vor allem Rente, aber auch Subventionsabbau) kurzerhand einstellen.
In Italien und Griechenland droht zum wiederholten Male der Kollaps, Frankreich taumelt durch die Amtszeit der Sozialisten und fiebert der Wahl entgegen. Die letzten vier Jahre kann man als verloren betrachten, der Reformdruck ist größer als je zuvor, die Unzufriedenheit ebenfalls. Sollte sich in der Wahl der Front National durchsetzen, dürften sich die Probleme der EWU entladen. Man kann dann mit einer Flucht aus dem Euro rechnen. Ob die EZB dann genügend Mittel haben wird, eine starke Abwertung und den damit verbundenen Vertrauensverlust zu verhindern, kann bezweifelt werden.
Ebenso zweifelhaft ist, ob die EZB in der Lage sein wird, einen Prozess der Inflationierung zu verhindern. Sollte sich die Geldmengenausdehnung tatsächlich direkt in Güter- und Dienstleistungsnachfrage übersetzen – und nicht wie bisher in der Nachfrage nach Kapitalmarkttiteln, dürfte das Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent schnell übertroffen werden. Dann müsste die EZB reagieren, was wiederum konjunkturbelastend und für die Regierungen teuer werden kann. Deshalb sollte die EZB bereits in 2017 anfangen, die Zinsen leicht und schrittweise zu erhöhen. So kann sie dem oben beschriebenen Szenario entgegenwirken.
Die Europäische Kommission kann diesen Prozess dadurch unterstützen, dass sie vermehrt und sichtbar auf regelgebundene Wirtschaftspolitik setzt. Das bedeutet zum Beispiel, die Regeln des Fiskalpaktes endlich einmal einzuhalten. Es bedeutet auch, konstruktive Vorschläge zu wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen zu entwerfen und den Regierungen zu unterbreiten. Es bedeutet schließlich auch den Weg der weiteren Marktöffnung für Anbieter aus Drittländern, zum Beispiel den Entwicklungsländern, aber auch Australien, Neuseeland, Kanada und hoffentlich den USA weiter zu öffnen, vor allem im Agrarsektor. Es bedeutet allerdings nicht, in visionären Papieren die Verlagerung von Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene zu verlangen.
Schließlich muss die EU eine Lösung für das Problem der Zuwanderung – seien es Flüchtlinge aus Krisengebieten oder andere Migranten – finden. Auf diesem Gebiet kann die EU tatsächlich dem Populismus begegnen, indem man eine menschliche und zugleich praktische Regel findet, wie die Wanderungen kontrolliert werden können. Denn Wanderung muss kontrolliert werden, die einreisenden Menschen müssen an den Grenzen erfasst werden, Asylverfahren müssen gestrafft werden. Die EU kann viel für ihr Image tun, wenn es gelingt, in diesem Feld Klarheit, Autorität und Sicherheit auszustrahlen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kommission wie auch nationale Regierungen rational und nicht hysterisch, nationalistisch und aggressiv auf diese Herausforderungen reagieren, ist nicht hoch. Sie müssen im Spannungsfeld unmittelbar zu lösender Probleme und langfristigem Überleben der Union agieren. Je weniger die Akteure dabei auf Symbolpolitik und Lippenbekenntnisse setzen und je pragmatischer und überlegter sie handeln, desto eher können die Probleme angepackt werden und kann die EU ein weiteres Mal gestärkt aus der Krise hervorgehen. Sie dürfte dann anders, schlanker, weniger umfassend oder sogar kleiner aussehen als heute. Solange das Ziele eines friedlichen Miteinanders in Europa erreicht wird, sollte das wahren Staatsmännern (und -frauen) egal sein.