Zwei Wochen sind 14 Tage, sind 336 Stunden, sind 20.160 Minuten. Und eigentlich ist diese Frist, die die Europäische Union der britischen Regierung für Zugeständnisse bei den Brexit-Verhandlungen gesetzt hatte, an diesem Freitag um. Aber wer wollte das mehr als 500 Tage nach der Entscheidung der britischen Wähler für den EU-Austritt schon so genau nehmen?
Die Ansage von EU-Chefunterhändler Michel Barnier vor zwei Wochen sei eher lose gemeint gewesen, sagen EU-Diplomaten jetzt. Aber sie hat ihre Wirkung aus Brüsseler Sicht nicht verfehlt. Londoner Signale diese Woche wertet man als Bewegung, um die Blockade bei den seit fünf Monaten laufenden Brexit-Gesprächen endlich aufzubrechen. Ob das wie geplant bis Mitte Dezember zu schaffen ist, darauf dürfte ein Gespräch von Premierministerin Theresa May mit EU-Ratspräsident Donald Tusk am Freitag zumindest einen Hinweis geben.
Noch immer geht es um die drei Scheidungsfragen, bei denen die EU Zusagen aus London erwartet, bevor über die künftigen Beziehungen beider Seiten gesprochen wird: Garantien für die 3,2 Millionen EU-Bürger in Großbritannien, die künftige Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland und die Schlussrechnung nach mehr als 40 Jahren britischer EU-Mitgliedschaft. Erst nach einer Grundsatzeinigung will die EU dem Wunsch Großbritanniens nachkommen und die künftigen Handels- und diplomatischen Beziehungen beider Seiten klären.
Schon seit einiger Zeit ist man ziemlich weit bei der Frage, unter welchen Bedingungen die EU-Bürger weiter in Großbritannien leben dürfen. Details sind nach Angaben von Diplomaten noch offen, aber das scheint keine unüberwindliche Hürde. Und seit dieser Woche ist man bei der EU auch optimistischer in Sachen Schlussrechnung.
Mit Genugtuung werden Berichte aus London aufgenommen, May habe sich die Unterstützung wichtiger Kabinettsmitglieder für eine Erhöhung des Finanzangebots eingeholt. Eine Summe nennt die britische Regierung offiziell nicht, nur unter der Hand kursiert in Medien die Zahl 40 Milliarden Euro. Das wäre eine Verdoppelung des bisherigen Angebots und immerhin auf dem Weg zu der von der EU - ebenfalls inoffiziell - in Umlauf gebrachten Summe von mindestens 60 Milliarden Euro.
EU-Diplomaten betonen, wichtig sei nicht eine fixe Zahl, sondern die Anerkennung von Pflichten aus der Zeit der britischen EU-Mitgliedschaft wie Pensionslasten und Zahlungszusagen, die über das Austrittsdatum März 2019 hinausgehen. Und da warte man weiter auf detaillierte schriftliche Zusagen, ebenso wie beim Irland-Problem.
Britische Kabinett gleicht einem Kartenhaus
Das EU-Mitglied Irland will eine Grenze mit dem britischen Nordirland vermeiden, um nicht den gemeinsamen Wirtschaftsraum auf der irischen Insel zu zerschneiden und alte politische Wunden aufzureißen. Das will auch Großbritannien nicht, doch sind Lösungsansätze immer noch unklar. Die irische Regierung fordert jetzt immer lauter vorab schriftliche Garantien - mit Rückendeckung der EU-Partner.
Das für die EU so frustrierende Schneckentempo erklärt sich auch aus Mays äußerst schwieriger innenpolitischer Lage. Manchen Beobachtern kommt das Kabinett wie ein Kartenhaus vor - es wackelt und könnte bei der kleinsten Bewegung zusammenstürzen. May verliert in ihrer Partei zunehmend Rückhalt seit der fehlgeschlagenen Neuwahl im Juni. Sie wird von der erzkonservativen nordirischen DUP (Democratic Unionist Party) unterstützt, für die gerade die Irland-Frage heikel ist.
Die Überweisung weiterer Milliarden an die EU wiederum treibt die besonders überzeugten Brexit-Befürworter auf die Palme. Darunter ist auch Außenminister Boris Johnson - obwohl dieser nun einem verbesserten Finanzangebot an Brüssel zugestimmt haben soll. Johnson werden selbst Ambitionen auf das höchste Regierungsamt nachgesagt, und er fährt May immer wieder in die Parade. Erst kürzlich soll er gemeinsam mit Umweltminister Michael Gove die Regierungschefin per Brief aufgefordert haben, notfalls einen „harten Brexit“ durchzuziehen. May tut sich schwer, Brexit-Hardliner und die Befürworter eines weichen EU-Ausstiegs unter einen Hut zu bringen.
Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte
Jedes fünfte aus Deutschland exportierte Auto geht laut Branchenverband VDA ins Vereinigte Königreich. Präsident Matthias Wissmann warnte daher vor Zöllen, die den Warenverkehr verteuerten. BMW etwa verkaufte in Großbritannien 2015 rund 236 000 Autos - über 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Mercedes waren es 8 Prozent, bei VW 6 Prozent. BMW und VW haben auf der Insel zudem Fabriken für ihre Töchter Mini und Bentley. Von „deutlich geringeren Verkäufen“ in Großbritannien nach dem Brexit-Votum berichtete bereits Opel. Der Hersteller rechnet wegen des Entscheids 2016 nicht mehr mit der angepeilten Rückkehr in die schwarzen Zahlen.
Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien der viertwichtigste Auslandsmarkt nach den USA, China und Frankreich. 2015 gingen Maschinen im Wert von 7,2 Milliarden Euro auf die Insel. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte weniger gut. In den ersten zehn Monaten 2016 stiegen die Exporte nach Großbritannien dem Branchenverband VDMA zufolge um 1,8 Prozent gemessen am Vorjahr. 2015 waren sie aber noch um 5,8 Prozent binnen Jahresfrist gewachsen. Mit dem Brexit sei ein weiteres Konjunkturrisiko für den Maschinenbau dazugekommen, sagte VDMA-Präsident Carl Martin Welcker im Dezember.
Die Unternehmen fürchten schlechtere Geschäfte wegen des Brexits. Der Entscheid habe bewirkt, dass sich das Investitions- und Konsumklima in Großbritannien verschlechtert habe, sagte jüngst Kurt Bock, Präsident des Branchenverbands VCI. Für die deutschen Hersteller ist Großbritannien ein wichtiger Abnehmer gerade von Pharmazeutika und Spezialchemikalien. 2016 exportierten sie Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich, rund 7,3 Prozent ihrer Gesamtexporte.
Für Elektroprodukte „Made in Germany“ ist Großbritannien der viertgrößte Abnehmer weltweit. 2015 exportierten deutsche Hersteller laut Branchenverband ZVEI Waren im Wert von 9,9 Milliarden Euro in das Land, 9,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Im vergangenen Jahr liefen die Geschäfte mit dem Vereinigten Königreich nicht mehr so gut. Nach zehn Monaten verzeichnet der Verband ein Plus bei den Elektroausfuhren von 1,7 Prozent gemessen am Vorjahr. Grund für die Eintrübung seien nicht zuletzt Wechselkurseffekte wegen des schwachen Pfunds, sagte Andreas Gontermann, Chefvolkswirt des ZVEI.
Banken brauchen für Dienstleistungen in der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Mit dem Brexit werden Barrieren befürchtet. Deutsche Geldhäuser beschäftigten zudem Tausende Banker in London, gerade im Investmentbanking. Die Deutsche Bank glaubt indes nicht, dass sie ihre Struktur in Großbritannien „kurzfristig wesentlich“ ändern muss. Die Commerzbank hat ihr Investmentbanking in London schon stark gekürzt. Um viel geht es für die Deutsche Börse. Sie will sich mit dem Londoner Konkurrenten LSE zusammenschließen. Der Brexit macht das Projekt noch komplizierter.
Der Chef des wichtigsten britischen Unternehmerverbands CBI (Confederation of British Industry), Paul Drechsler, mahnte die Regierung zur Einheit und sprach von einer Seifenoper. „Jede Woche gibt es eine neue Folge, die für weitere Aufregung und Chaos sorgt.“
Neben dem Brexit hat May weitere Baustellen. Besonders muss es die Regierungschefin getroffen haben, dass ihr langjähriger Unterstützer Michael Fallon wegen Belästigungsvorwürfen als Verteidigungsminister sein Amt aufgegeben hat. Auch Mays Vize und Verbündeter Damian Green ist unter Druck - ebenfalls im Zuge der Sexismus-Debatte. Entwicklungshilfeministerin Priti Patel musste zurücktreten, weil sie sich ohne Absprache im Urlaub in Israel mit Premierminister Benjamin Netanjahu getroffen hatte. Das Kabinett bröckelt.
Jedes Brexit-Unterfangen wird im Parlament zur Zitterpartie, so auch das umstrittene EU-Austrittsgesetz. Es soll am Tag der Trennung von der Staatengemeinschaft EU-Recht in nationale Gesetze gießen, damit kein Chaos zum Beispiel für Unternehmen entsteht. Doch schon jetzt gibt es Hunderte von Änderungsanträgen von Abgeordneten.
So ist die Lage trotz optimistischer Töne in Brüssel weiter sehr unübersichtlich. In London geht es hin und her. Angesichts der desolaten Lage der Regierung bleibt die Sorge, ob nicht am Ende doch alles schiefgeht und Großbritannien ungeregelt aus der EU austritt.