Fünf Szenarien Warum ein Kerneuropa die EU zerstören könnte

Wie sieht Europa im Jahr 2030 aus? Wissenschaftler haben fünf Szenarien entwickelt - vom Zerfall des Staatenbundes bis hin zum starken Global Player. Alle haben eines gemeinsam: Ein Zwei-Klassen-Europa scheint unaufhaltsam.

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Vom Zerfall des Staatenbundes bis hin zum starken Global Player: In ihrer Analyse entwerfen die Wissenschaftler insgesamt fünf Szenarien, wie sich die EU bis zum Jahr 2030 entwickeln könnte. Quelle: dpa

15 Jahre in der Zukunft: Die Europäische Union ist faktisch zerfallen. In vielen europäischen Ländern herrscht Massenarbeitslosigkeit, die Wirtschaft stagniert oder befindet sich in einer Rezession. Diese apokalyptische Zukunftsvision haben Wissenschaftler für die „Stiftung Neue Verantwortung“ formuliert. Gleichwohl: Es ist nicht die einzige. In ihrer Analyse entwerfen die Ökonomen, Politikwissenschaftler und Juristen insgesamt fünf Szenarien, wie sich die EU bis zum Jahr 2030 entwickeln könnte. Die Autoren konzentrieren sich auf die sozialen Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre.

Allen Szenarien liegen die gleichen Faktoren zugrunde. Durch den demografischen Wandel ist die Anzahl der arbeitsfähigen Arbeitnehmer zwischen 15 und 65 Jahren rückläufig. Damit sinken potentiell die Steuereinnahmen und es wird weniger in die Sozialkassen gezahlt. Die medizinische Versorgung wird teurer, die Lohnnebenkosten gehen nach oben, ebenso die Steuerlast. Eine wachsende Ungleichverteilung dürfte laut Analyse die Folge sein. Verstärkt werden diese Effekte durch den Fachkräftemangel.

Neun Klischees über die EU – und die Wahrheit dahinter

Auf Basis von OECD-Berechnungen kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Einkommensspreizung weiter zunimmt. Der soziale Zusammenhalt und der Sozialstaat stehen damit auf der Kippe. Die wachsenden ökonomischen Ungleichheiten und Mehrbelastungen dürften zu einem weiteren Vertrauensverlust in die politischen Institutionen führen, die Anfälligkeit für Populisten zunehmen. Ein weiterer Faktor für die Analyse ist die weltweite Urbanisierung, also die Verlagerung ökonomischer und sozialer Aktivitäten in die Städte.

1. Szenario: Eine geeinte, starke und handlungsfähige EU

Die Europäer haben aus den Krisen zu Beginn des Jahrhunderts gelernt. Die Staatsschulden sind mittlerweile unter Kontrolle, die Eurostaaten halten sich an die Stabilitätskriterien. Die EU ist insgesamt geeint, gestärkt und weiter gewachsen. Nach dem Beitritt der Westbalkan-Staaten umfasst die Staatengemeinschaft mittlerweile 32 Mitglieder.

Brüssel hat in diesem Szenario weitere Kompetenzen hinzugewonnen und unter anderem die Blue-Card neu aufgelegt, um Zuwanderung nach einem klaren Punktesystem zu organisieren. Einwanderung auf Zeit ist ein beliebtes Konzept geworden. Viele leben und arbeiten für einige Jahre in der Europäischen Union und kehren später zurück in ihre Herkunftsländer, um sich dort mit ihrem europäischen Know how eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Die Welt ist tatsächlich ein „Globales Dorf“ geworden – und die EU eine Art Talentschmiede für Migranten.

2. Szenario: Das Postmaterialistische Kerneuropa

Innerhalb der Europäischen Union haben sich die wohlhabenden und leistungsstarken Länder zu einem effizienten und handlungsfähigen Kerneuropa zusammengeschlossen – dazu zählen Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die westlichen und nordischen Staaten. Hochtechnologie und Produktion finden noch statt. Wachstum ist aber insgesamt weniger wichtig geworden. Sharing Economy in nahezu allen Lebensbereichen – ob Auto, Arbeitsplatz oder Tanzkurs – ist eine Folge des Wertewandels in Europa. Auslöser für diese Entwicklung ist die Generation Y gewesen, denen Lebensqualität und die weitgehende Digitalisierung der Gesellschaft wichtiger waren als Wachstum.

Außerhalb von Kerneuropa, dazu zählen unter anderem Spanien, Italien sowie ein Großteil der süd-osteuropäischen Ländern, dominieren weiterhin Wirtschaftsstrukturen, die sich um die Güter- und landwirtschaftliche Organisation herum organisieren. In diesem Teil Europas ist Lohnniveau deutlich niedriger und die Arbeitslosigkeit hoch.

Rückkehr zu langfristigem Wachstum und sozialer Absicherung

3. Szenario: Vereinigte Wachstumszentren gehen allein voran

Im dritten Szenario hat sich ebenfalls ein Kerneuropa gebildet. Die EU existiert zwar noch, spielt aber keine Rolle mehr. Deutschland, Frankreich, die Benelux-Länder sowie die skandinavischen Staaten haben sich zu regionalen Wachstumszentren zusammengeschlossen. Der Wertewandel hin zu einer Gesellschaft ohne Wachstum hat hier nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Im Kerneuropa haben sich die wirtschaftlich gesunden und finanziell starken Länder verbündet. Die schwächeren Länder, vor allem in Süd- und Osteuropa, haben sie zurückgelassen.

An Griechenland hängt mehr als nur der Euro

 Dieses Kerneuropa hat es zu erheblichem Wohlstand gebracht und spielt in der technologischen Weltspitze mit. Aber: Die Staaten sind überaus anfällig für Rezessionen, sobald die globale Konjunktur einbricht. Zudem verschlafen sie es, auf den demografischen Wandel angemessen zu reagieren. Zu wenige Einwanderer kommen nach Kerneuropa. Die Älteren in der Bevölkerung kontrollieren die politische Agenda.

4. Szenario: Nationalismus macht Schule

Die Gesellschaften Europas sind nach rechts gerückt. Auslöser dafür waren der Austritt von Großbritannien und der Niederlande aus der EU sowie die knappe Niederlage des rechtsextremen Front National bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich. In ganz Europa bekamen nationalistische Bewegungen Aufwind, auch im Süden und Osten des Kontinents.

Damit die Europäische Union nicht zerfällt, leiteten die moderaten Volksparteien in den Mitgliedsländern einen radikalen Kurswechsel ein. Sie nahmen wesentliche Forderungen der extremen Rechten in ihre Programme auf. Die Folge: Es gibt kaum noch Zuwanderung in die EU, die Außengrenzen werden mit Hochtechnologie gesichert, sodass Flüchtlinge nicht mehr auf den Kontinent gelangen. Wirtschaftlich geht es der EU nicht gut. Ihr fehlen Fachkräfte, die wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen Nord und Süd haben sich massiv verstärkt. Viele Mitgliedsstaaten haben große Probleme bei der Armutsbekämpfung.

Wie stehen Griechenland, Spanien und Co. da?
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Die Lohnstückkosten sind in Griechenland, Irland und Spanien vergleichbar hoch. Für Griechenland senkt das die Wettbewerbsfähigkeit im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung deutlich herab.
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Alle vier Länder haben den Abbau der Staatsausgaben verbessert. Besonders Griechenland war hier auf einem guten Weg, bis im Januar Syriza an die Macht kam.
Mit dem Abbau der Staatsverschuldung haben alle vier Länder noch ein Problem und sind noch weit entfernt von einem akzeptablen Stand. Am besten schlagen sich hier Spanien und Irland.
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5. Individualisierte EU verliert im globalen Wettbewerb

Trotz aller Bemühungen kann die Europäische Union im fünften Szenario mit den aufstrebenden Boomregionen der Erde nicht mithalten. Zwar hat der Staatenbund die Krisenjahre einigermaßen überstanden. Danach folgte aber eine politische Lethargie. Keine weitere Vertiefung und  keine tiefgreifenden Strukturreformen der nationalen Volkswirtschaften – Europa dümpelt vor sich hin. Und weil es seine Probleme kaum gelöst bekommt, kann es auch international nicht mithalten.

In diesem Europa ist sich jeder selbst der nächste – auf Staatenebene und individuell. Viele sprechen von einem Zwei-Klassen-Europa. Besonderes Merkmal. Es ist eine Generation Armut entstanden, die sich der Resignation hingibt.

Die Wissenschaftler haben die Szenarien mit Hilfe von 40 Experten aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Nichtregierungsorganisationen erarbeitet. Die fünf Zukunftsvisionen unterscheiden sich teilweise erheblich – von einer geeinten und funktionierenden EU bis hin zu einer Art gescheiterten Kontinent. Gleichwohl gibt es einige Trends mit großer Beständigkeit über die einzelnen Szenarien hinaus, darunter:

  • ein „Europa der zwei Klassen“

  • die Konzentration der wirtschaftlichen Prosperität auf wenige Wachstumszentren

  • die Integration Europas in ein zunehmend technologisch getriebenes „Global Village“

  • eine primär über nationale und kaum europäische Interessen getriebene Meinungsbildung

  • unzureichende Haushaltsspielräume in einer entscheidungsfähigen Anzahl an EU-Mitgliedsstaaten

  • die Etablierung nationalistischer Regierungen in mehreren EU-Mitgliedsstaaten.

Für die Wissenschaftler ist klar: Nur wenn sich die Politik diesen europäischen Trends annimmt, ist eine Rückkehr zu langfristigem Wachstum und sozialer Absicherung möglich.

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