15 Jahre in der Zukunft: Die Europäische Union ist faktisch zerfallen. In vielen europäischen Ländern herrscht Massenarbeitslosigkeit, die Wirtschaft stagniert oder befindet sich in einer Rezession. Diese apokalyptische Zukunftsvision haben Wissenschaftler für die „Stiftung Neue Verantwortung“ formuliert. Gleichwohl: Es ist nicht die einzige. In ihrer Analyse entwerfen die Ökonomen, Politikwissenschaftler und Juristen insgesamt fünf Szenarien, wie sich die EU bis zum Jahr 2030 entwickeln könnte. Die Autoren konzentrieren sich auf die sozialen Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten Jahre.
Allen Szenarien liegen die gleichen Faktoren zugrunde. Durch den demografischen Wandel ist die Anzahl der arbeitsfähigen Arbeitnehmer zwischen 15 und 65 Jahren rückläufig. Damit sinken potentiell die Steuereinnahmen und es wird weniger in die Sozialkassen gezahlt. Die medizinische Versorgung wird teurer, die Lohnnebenkosten gehen nach oben, ebenso die Steuerlast. Eine wachsende Ungleichverteilung dürfte laut Analyse die Folge sein. Verstärkt werden diese Effekte durch den Fachkräftemangel.
Neun Klischees über die EU – und die Wahrheit dahinter
Die EU gilt vielen als Verwaltungsmoloch. Mit rund 33.000 Mitarbeitern beschäftigt die EU-Kommission in etwa so viele Menschen wie die Stadtverwaltung München.
Seit der Einführung direkter Europawahlen 1979 hat das EU-Parlament deutlich mehr Einfluss gewonnen. Die Abgeordneten bestimmen über die meisten Gesetze mit, haben das letzte Wort beim Haushalt und wählen den Kommissionspräsidenten.
Deutschland leistet den größten Beitrag zum EU-Haushalt. 2012 zahlte Berlin netto 11,9 Milliarden Euro. Gemessen an der Wirtschaftsleistung sind Dänemark oder Schweden aber noch stärker belastet.
Zehn Jahre nach der Osterweiterung erweist sich die Angst vor dem „Klempner aus Polen“ als unbegründet. Stattdessen wächst die Wirtschaft in den neuen Mitgliedstaaten.
Neue Sanktionen gegen Russland beweisen: Die EU spielt eine Rolle in der Ukraine-Krise - ebenso wie bei anderen Krisenherden in aller Welt. Den EU-Staaten fällt es dennoch oft schwer, in der Außenpolitik mit einer Stimme zu sprechen.
Bereits seit 2009 abgeschafft, lastet die „Verordnung (EWG) Nr. 1677/88“ noch wie ein Fluch auf Brüssel. Die Vorschrift setzte Handelsklassen für das grüne Gemüse fest und gilt als Paradebeispiel für die Regulierungswut von Bürokraten.
In diesem Jahr verfügt die EU insgesamt über mehr als 130 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, entspricht aber nur rund einem Prozent der Wirtschaftsleistung der Staaten.
Die Landwirtschaft macht einen sehr großen, aber kleiner werdenden Teil des EU-Haushalts aus. Der Agrar-Anteil am Budget ist in den vergangenen 30 Jahren von 70 auf 40 Prozent geschrumpft.
Die EU-Abgeordneten erhalten monatlich zu versteuernde Dienstbezüge von 8020,53 Euro. Hinzu kommen stattliche Vergütungen etwa für Büros, Mitarbeiter und Reisen. Ein Bundestagsabgeordneter erhält 8252 Euro, ebenfalls plus Zulagen.
Auf Basis von OECD-Berechnungen kommen die Autoren zu dem Schluss, dass Einkommensspreizung weiter zunimmt. Der soziale Zusammenhalt und der Sozialstaat stehen damit auf der Kippe. Die wachsenden ökonomischen Ungleichheiten und Mehrbelastungen dürften zu einem weiteren Vertrauensverlust in die politischen Institutionen führen, die Anfälligkeit für Populisten zunehmen. Ein weiterer Faktor für die Analyse ist die weltweite Urbanisierung, also die Verlagerung ökonomischer und sozialer Aktivitäten in die Städte.
1. Szenario: Eine geeinte, starke und handlungsfähige EU
Die Europäer haben aus den Krisen zu Beginn des Jahrhunderts gelernt. Die Staatsschulden sind mittlerweile unter Kontrolle, die Eurostaaten halten sich an die Stabilitätskriterien. Die EU ist insgesamt geeint, gestärkt und weiter gewachsen. Nach dem Beitritt der Westbalkan-Staaten umfasst die Staatengemeinschaft mittlerweile 32 Mitglieder.
Brüssel hat in diesem Szenario weitere Kompetenzen hinzugewonnen und unter anderem die Blue-Card neu aufgelegt, um Zuwanderung nach einem klaren Punktesystem zu organisieren. Einwanderung auf Zeit ist ein beliebtes Konzept geworden. Viele leben und arbeiten für einige Jahre in der Europäischen Union und kehren später zurück in ihre Herkunftsländer, um sich dort mit ihrem europäischen Know how eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Die Welt ist tatsächlich ein „Globales Dorf“ geworden – und die EU eine Art Talentschmiede für Migranten.
2. Szenario: Das Postmaterialistische Kerneuropa
Innerhalb der Europäischen Union haben sich die wohlhabenden und leistungsstarken Länder zu einem effizienten und handlungsfähigen Kerneuropa zusammengeschlossen – dazu zählen Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die westlichen und nordischen Staaten. Hochtechnologie und Produktion finden noch statt. Wachstum ist aber insgesamt weniger wichtig geworden. Sharing Economy in nahezu allen Lebensbereichen – ob Auto, Arbeitsplatz oder Tanzkurs – ist eine Folge des Wertewandels in Europa. Auslöser für diese Entwicklung ist die Generation Y gewesen, denen Lebensqualität und die weitgehende Digitalisierung der Gesellschaft wichtiger waren als Wachstum.
Außerhalb von Kerneuropa, dazu zählen unter anderem Spanien, Italien sowie ein Großteil der süd-osteuropäischen Ländern, dominieren weiterhin Wirtschaftsstrukturen, die sich um die Güter- und landwirtschaftliche Organisation herum organisieren. In diesem Teil Europas ist Lohnniveau deutlich niedriger und die Arbeitslosigkeit hoch.
Rückkehr zu langfristigem Wachstum und sozialer Absicherung
3. Szenario: Vereinigte Wachstumszentren gehen allein voran
Im dritten Szenario hat sich ebenfalls ein Kerneuropa gebildet. Die EU existiert zwar noch, spielt aber keine Rolle mehr. Deutschland, Frankreich, die Benelux-Länder sowie die skandinavischen Staaten haben sich zu regionalen Wachstumszentren zusammengeschlossen. Der Wertewandel hin zu einer Gesellschaft ohne Wachstum hat hier nicht stattgefunden. Im Gegenteil: Im Kerneuropa haben sich die wirtschaftlich gesunden und finanziell starken Länder verbündet. Die schwächeren Länder, vor allem in Süd- und Osteuropa, haben sie zurückgelassen.
An Griechenland hängt mehr als nur der Euro
Seit Wochen betonen die Euro-Partner, dass die Ansteckungsgefahr nach einem Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone eher gering wäre. Zum einen wird darauf verwiesen, dass sich heute fast alle griechischen Schulden bis auf 40 bis 50 Milliarden Euro in der öffentlichen Hand befinden - eine Kettenreaktion kollabierender Banken also nicht zu befürchten sei. Zum anderen hätten sich Gläubiger seit langem auf mögliche Probleme eingestellt und ihre griechischen Geschäfte reduziert.
Alles falsch, meint Schulz und verweist darauf, dass die Risikoaufschläge etwa für spanische Staatsanleihen in den vergangenen Wochen erheblich gestiegen seien. Kommt ein Staatsbankrott, würde der möglicherweise einen Schuldenschnitt nach sich ziehen - mit erheblichen Belastungen für die klammen Haushalte etwa der südlichen EU-Staaten, aber auch Frankreichs.
Außerdem könnte das Vertrauen in den Euro als Währung weltweit Schaden nehmen, wenn eines der 19 Mitglieder ausbreche, heißt es in der Bundesregierung. Dabei spiele keine große Rolle, dass Griechenland weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Währungszone beisteuere. Denn die angebliche Unumkehrbarkeit der Euro-Einführung wäre widerlegt.
In Berlin fürchtet man aber auch, dass ein Kollaps Griechenlands den Befürwortern eines britischen Austritts aus der EU Auftrieb geben könnte. Europa droht also an seinen Rändern zu zerfasern. Der Grund ist einfach: Die EU wäre nach einem Ausstieg Athens wahrscheinlich in einem so desolaten Zustand und müsste so viel kurzatmige Rettungsaktionen für Griechenland starten, dass die Gemeinschaft auf britische Wähler kaum noch attraktiv wirken dürfte. Möglicherweise würden zudem mehr Griechen das eigene Land auch Richtung Großbritannien verlassen wollen. Die Briten schimpfen aber bereits jetzt über zu viele Migranten aus anderen EU-Ländern - dies ist einer der Kritikpunkte der EU-Gegner auf der Insel.
Griechenland ist nicht nur ein angeschlagener Euro-Staat, sondern auch ein schwieriger EU-Partner. Mit seiner Linksaußen- Rechtsaußen-Regierung betonte Ministerpräsident Alexis Tsipras politische Nähe zum Kreml und hat sich mehrfach mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin getroffen. In der EU gibt man sich zwar gelassen, dass Russland nicht als alternativer Geldgeber gegen die EU ausgespielt werden kann - dafür sind die nötigen Hilfssummen viel zu groß. Auch die Träume des Links-Politikers, dass Griechenland Verteilland für russisches Gas in der EU werden könnte, dürften sich angesichts des Vorgehens der EU-Kommission gegen den russischen Gasriesen Gazprom zerschlagen. Aber Putin hat nach Ansicht von EU-Diplomaten durchaus schon bewiesen, dass er Differenzen zwischen EU-Staaten ausnutzen kann. Bei der Verlängerung von EU-Sanktionen gegen Russland braucht es etwa auch die Zustimmung Griechenlands.
In Berlin sorgt man sich zunehmend, dass die gesamte Balkan-Region ohnehin sehr instabil werden kann. Immer noch gärt der Namensstreit zwischen Griechenland mit dem EU-Beitrittsaspiranten Mazedonien - in dem ein heftiger innenpolitischer Machtkampf tobt. Und Geheimdienste warnen, dass die radikalislamische Miliz Islamischer Staat (IS) in den vergangenen Monaten massiv versucht hat, in den moslemischen Bevölkerungen Bosnien-Herzegowinas, Albaniens oder Mazedoniens Fuß zu fassen. Ein zusammenbrechender Nachbarstaat Griechenland würde die Unruhe in der Region noch verstärken.
Kaum diskutiert worden ist die Rolle Griechenlands bei der Abwehr eines unkontrollierten Zuzugs von Flüchtlingen in die EU. In den vergangenen Jahren hat der bessere Schutz der griechisch-türkischen Grenze Flüchtlingen aus dem Nahen Osten die Einwanderung in die EU zumindest zum Teil erschwert. Die linke Syriza-Partei könnte im Falle eines Staatsbankrotts die Schleusen für afrikanische oder syrische Flüchtlinge aufmachen. Entsprechende Drohungen waren aus Athen bereits zu hören. Denn seit Jahresbeginn seien bereits 46.000 Flüchtlinge nach Griechenland gekommen, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit. 2014 waren es im selben Zeitraum nur 34.000 Personen. Die Vereinten Nationen warnen bereits vor einer Flüchtlingskatastrophe in Griechenland.
EU-Kommissar Günther Oettinger forderte die Brüsseler Behörde auch deshalb auf, einen "Plan B" zu erarbeiten. Dabei soll Hilfe für das Land für den Fall eines Bankrotts vorbereitet werden. Neben humanitärer Hilfe gehe es um die Frage, wie man eigentlich die Sicherheit in dem EU-Land noch gewährleisten will, wenn die Regierung den Polizisten keine Löhne mehr zahlen kann.
Dieses Kerneuropa hat es zu erheblichem Wohlstand gebracht und spielt in der technologischen Weltspitze mit. Aber: Die Staaten sind überaus anfällig für Rezessionen, sobald die globale Konjunktur einbricht. Zudem verschlafen sie es, auf den demografischen Wandel angemessen zu reagieren. Zu wenige Einwanderer kommen nach Kerneuropa. Die Älteren in der Bevölkerung kontrollieren die politische Agenda.
4. Szenario: Nationalismus macht Schule
Die Gesellschaften Europas sind nach rechts gerückt. Auslöser dafür waren der Austritt von Großbritannien und der Niederlande aus der EU sowie die knappe Niederlage des rechtsextremen Front National bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich. In ganz Europa bekamen nationalistische Bewegungen Aufwind, auch im Süden und Osten des Kontinents.
Damit die Europäische Union nicht zerfällt, leiteten die moderaten Volksparteien in den Mitgliedsländern einen radikalen Kurswechsel ein. Sie nahmen wesentliche Forderungen der extremen Rechten in ihre Programme auf. Die Folge: Es gibt kaum noch Zuwanderung in die EU, die Außengrenzen werden mit Hochtechnologie gesichert, sodass Flüchtlinge nicht mehr auf den Kontinent gelangen. Wirtschaftlich geht es der EU nicht gut. Ihr fehlen Fachkräfte, die wirtschaftlichen Ungleichheiten zwischen Nord und Süd haben sich massiv verstärkt. Viele Mitgliedsstaaten haben große Probleme bei der Armutsbekämpfung.
5. Individualisierte EU verliert im globalen Wettbewerb
Trotz aller Bemühungen kann die Europäische Union im fünften Szenario mit den aufstrebenden Boomregionen der Erde nicht mithalten. Zwar hat der Staatenbund die Krisenjahre einigermaßen überstanden. Danach folgte aber eine politische Lethargie. Keine weitere Vertiefung und keine tiefgreifenden Strukturreformen der nationalen Volkswirtschaften – Europa dümpelt vor sich hin. Und weil es seine Probleme kaum gelöst bekommt, kann es auch international nicht mithalten.
In diesem Europa ist sich jeder selbst der nächste – auf Staatenebene und individuell. Viele sprechen von einem Zwei-Klassen-Europa. Besonderes Merkmal. Es ist eine Generation Armut entstanden, die sich der Resignation hingibt.
Die Wissenschaftler haben die Szenarien mit Hilfe von 40 Experten aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Nichtregierungsorganisationen erarbeitet. Die fünf Zukunftsvisionen unterscheiden sich teilweise erheblich – von einer geeinten und funktionierenden EU bis hin zu einer Art gescheiterten Kontinent. Gleichwohl gibt es einige Trends mit großer Beständigkeit über die einzelnen Szenarien hinaus, darunter:
ein „Europa der zwei Klassen“
die Konzentration der wirtschaftlichen Prosperität auf wenige Wachstumszentren
die Integration Europas in ein zunehmend technologisch getriebenes „Global Village“
eine primär über nationale und kaum europäische Interessen getriebene Meinungsbildung
unzureichende Haushaltsspielräume in einer entscheidungsfähigen Anzahl an EU-Mitgliedsstaaten
die Etablierung nationalistischer Regierungen in mehreren EU-Mitgliedsstaaten.
Für die Wissenschaftler ist klar: Nur wenn sich die Politik diesen europäischen Trends annimmt, ist eine Rückkehr zu langfristigem Wachstum und sozialer Absicherung möglich.