Der russische Präsident Vladimir Putin nennt es „bedauerlich“: Die Europäischen Kommission hat im September ein förmliches Kartellverfahren gegen den russischen Energiegiganten Gazprom angekündigt, das Rechtsexperten schon jetzt zum wichtigsten des Jahrzehnts erklärt haben. Wo es für den EU-Energiekommissar Günther Öttinger einfach nur um faire Marktbedingungen im europäischen Markt geht, hoffen Russlands Oppositionelle auf eine Schwächung des Machtapparates der Oligarchen, der das wahre Zentrum der Macht ist.
Dies und noch einiges mehr steckt hinter der so nüchternen Ankündigung der Kommission. Doch die weitreichendste Botschaft dieses an Wichtigkeit kaum zu überschätzenden Vorgangs ist, dass sich die russischen Machthaber im für sie überlebenswichtigen geopolitischen Energiespiel überraschend deutlich verkalkuliert haben.
Gazprom ist längst elementarer Teil des russischen Staatsgeschäfts. Energieexporte sind die einzige verlässliche Devisenquelle Russlands, und der Machterhalt des Putinschen Regierungsapparates hängt entscheidend davon ab, wie viele Finanzmittel im Land und in seinen Institutionen (vor allem der Armee) zum Stabilitätserhalt verteilt werden können. Die Ausweitung der Geschäftsfelder russischer Energieunternehmen, insbesondere Gazproms, ist deshalb seit Jahren darauf gerichtet, den Marktanteil in den Exportmärkten zu erhöhen, und sowohl im Upstream (der Förderung), als auch im Downstream (dem Vertrieb) eine monopolartige Stellung einzunehmen. Bisher ist diese Strategie enorm erfolgreich gewesen, und die westlichen Empfängerländer russischer Energie haben das Spiel mal mehr, mal weniger begeistert mitgespielt.
Zu uneins waren sich die Europäer, zu weit entfernt von einer wirklichen gemeinschaftlichen Energiepolitik, als dass sie im Streit mit Russland ihre an sich starke Stellung hätten voll ausnutzen können. Denn zwar sind die Europäer in wachsendem Maße von russischen Energielieferungen abhängig, aber gleichzeitig ist Russland ebenso abhängig von der Kaufneigung der Europäer. Theoretisch herrscht Waffengleichheit, doch die Zerstrittenheit der Europäer und die höchst erfolgreiche Energiediplomatie Russlands, die diese Zerstrittenheit hegt und pflegt, schwächten bisher stets die Verhandlungsposition der Empfänger.
Gazproms Preise sind politisch
Nun könnte sich das ändern, und zwar nicht aufgrund einer endlich konsolidierten europäischen Energiepolitik, sondern wegen einer Marktregulierungsfrage. Denn die Frage der Preisgestaltung durch den russischen Monopollieferanten war seit jeher heiß umstritten, und könnte nun ihre ganze politische Sprengkraft entfalten. Die von Gazprom geforderten Preise sind europaweit nicht gleich. Und das ist mit Marktmechanismen nicht erklärbar. So liegt der Verdacht nah, dass die Preise “politischer” Natur sind. Unliebsame, russlandkritische Staaten wie Litauen werden mit höheren Preisen bestraft, während russlandfreundlichere Partner wie Berlin und Paris günstigere Konditionen erhalten.
Für die Europäische Kommission ist eine solche, künstlich geschaffene Ungleichheit von Preisen ein Verstoß gegen die Wettbewerbsgrundsätze der EU. Nach EU-Recht ist die Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung verboten, sofern sie den freien Handel im Binnenmarkt behindert. Noch prüft und schweigt die Kommission, aber Energieexperten in Europa erwarten einen langanhaltende und bis zur letzten Instanz ausgefochtenen Disput – untrügliches Zeichen dafür, dass genug verwertbares Material vorliegt, um den Verdacht zu stützen. Entscheidend, so Beobachter, ist nicht so sehr das Ergebnis des Verfahrens, sondern dass sich während der erwartbar langen Verfahrensdauer der Gasmarkt in Reaktion auf das Verfahren deutlich verändern wird, und zwar zu Ungunsten Russlands.
Für Russland wäre dies nicht nur ein schwerer wirtschaftlicher Schlag, es wäre auch der Bankrott seiner geopolitischen Strategie in Europa.