Gazprom und die EU Der fatale Denkfehler der Russen

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Russland hat das Ordnungsprinzip der EU nicht verstanden

Der Verdacht liegt nah, dass hinter diesen fundamentalen Fehlkalkulationen ein tieferliegendes Phänomen steckt. Unter Russlandbeobachtern ist es ein Klassiker, darauf zu verweisen, dass die russische politische Kultur strikt dem archaischen Nullsummendenken verhaftet ist, demzufolge es in einer politischen Beziehung immer notwendigerweise einen Gewinner und einen Verlierer geben muss. Gewinnst Du, verliere ich zwangsläufig, und andersherum. Der europäische Integrationsprozess funktioniert  aber nicht nach dem Nullsummenprinzip, sondern basiert auf der Annahme, dass win-win-Sitationen erzeugt werden können, aus denen alle Beteiligten unterm Strich als Gewinner hervorgehen.

Die ganze EU stützt sich auf die Idee, dass alle Mitgliedsstaaten etwas geben und dafür im Gegenzug für alle ein Wohlstandseffekt erzielt wird. Die Europäische Kommission ist die Verkörperung dieser sogenannten “Sovereignty Bargains”, deren Einhaltung sie akribisch überwacht. Das traditionelle Souveränitätsverständnis in Russland steht solchen Bargains entgegen, und verstellt Russland den Blick auf den Kern des politischen Betriebes in Brüssel. Die Unfähigkeit, dieses zentrale Ordnungsprinzip der EU zu verstehen, zu akzeptieren, und in das eigene Handeln einzubeziehen, hat womöglich entscheidend zur Fehlkalkulation in der Gazpromfrage beigetragen.

Für die Europäer stecken mehrere Lektionen in diesem Fall. Erstens ruft es allen in Erinnerung, was man an den Vertragswerken der EU und den darin geschaffenen und oft so leichterhand gescholtenen Institutionen hat. Zweitens zeigt er die Denkmuster und die Schwächen des russischen Partners exemplarisch auf. Dies sollte der großen Zahl von Russland-Apologeten und Beschwichtigern eine Erinnerung daran sein, mit wem sie sich eingelassen haben. Drittens zeigt er, dass die wahre außenpolitische Kraft der EU aus ihren Handelsbeziehungen und, indirekt, aus ihrem stark integrierten Binnenmarkt erwächst.

In diesem Politikfeld liegt die Kraft für gestaltendes Auftreten in der Welt. Daraus folgt, viertens, dass die außenpolitischen Instrumente der Union solange stumpf bleiben werden, solange sie künstlich von Wirtschafts- und Handelsfragen abgekoppelt bleiben. Der Gazprom-Fall ist, noch ehe er so richtig Fahrt aufgenommen hat, zum europapolitischen Lehrstück geworden.

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