Gefahr eines Präzedenzfalls „Belarus wird zu einem Nordkorea mitten in Europa“

Alexander Lukaschenko, Präsident von Belarus, steht momentan im Fokus der EU und anderer Länder, da er die Entführung eines Passagierflugzeugs angeordnet hatte. Quelle: dpa

Die EU muss sich entschieden gegen den Staatsterrorismus des belarussischen Diktators Lukaschenko wehren. Ohne eine harte Reaktion der EU wird auch der Luftraum über Russland und der Türkei unsicher.

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Die Reaktion kam schnell und fiel nach EU-Maßstäben deutlich aus. Am Pfingstmontag beschlossen die 27 Staats- und Regierungschefs beim informellen EU-Gipfel in Brüssel Sanktionen gegen Belarus. Damit setzten sie nur einen Tag nach der vom belarussische Diktator Alexander Lukaschenko angeordneten Entführung eines Passagierflugzeugs ein klares Zeichen. EU-Ratspräsident Charles Michel hatte zuvor von einem „internationalen Skandal“ gesprochen.

Noch ist nicht klar, wie die Sanktionen im Einzelnen aussehen werden, welche Personen etwa mit Reiseverboten und dem Einfrieren ihres Vermögens rechnen müssen. Auch ist noch nicht sicher, welche Form die Wirtschaftssanktionen genau annehmen werden. Aber der Vorfall vom Pfingstsonntag birgt für die EU zwei wichtige Lehren:

Die EU muss verhindern, dass die Flugzeugentführung zu einem Präzedenzfall wird, von dem sich Autokraten wie Putin und Erdogan inspirieren lassen

von Max Haerder, Maxim Kireev, Silke Wettach

Lukaschenko wollte einen Mann festsetzen, den er als persönlichen Feind empfindet. Dafür schreckte er nicht davor zurück, ein Flugzeug, das zwischen zwei EU-Hauptstädten unterwegs war, in die belarussische Hauptstadt umzuleiten und die Passagiere wie Geiseln zu behandeln. Lukaschenko ging es nicht nur darum, den in Litauen im Exil lebenden Blogger und Aktivisten Roman Protasewitsch festzusetzen. Er wollte auch ein Signal an alle Oppositionellen im Ausland senden. „Ihr könnt Euch nirgendwo sicher fühlen, ist die Botschaft, die Lukaschenko überbringt“, sagt Jörg Forbrig von der Denkfabrik German Marshall Fund of the United States. Der Osteuropa-Experte hält eine harte Reaktion der EU für wichtig, weil andernfalls Autokraten wie Recep Tayyip Erdogan in der Türkei oder Wladimir Putin das Vorgehen kopieren könnten und ebenfalls Personen in ihrem Luftraum abfangen.

Die EU darf das aus zwei Gründen nicht zulassen: Einmal, weil sie zur Demokratie steht und politisch Verfolgten immer wieder ihre Unterstützung zusagt. Und weil es für die zivile Luftfahrt erhebliche Konsequenzen hätte, wenn europäische Fluglinien künftig den türkischen und russischen Luftraum meiden müssten.



Die Strafmaßnahmen gegen die staatliche belarussische Luftlinie Belavia findet Forbrig zweischneidig. Da das Land die meisten Grenzen an Land in Zeiten der Pandemie geschlossen hat, waren Flugverbindungen eine der letzten Fluchtrouten für belarussische Dissidenten. Wenn europäische Fluglinien, wie von den Staats- und Regierungschefs empfohlen, den belarussischen Luftraum meiden, wird das Land vom Rest des Kontinents abgeschnitten. Forbrig: „Belarus wird zu einem Nord-Korea mitten in Europa.“

Die EU kann und muss entschieden gegen Geheimdienstaktivitäten auf ihrem Boden vorgehen

Eine Strafmaßnahme haben die Staats- und Regierungschefs nicht beschlossen: Eine Einschränkung ihrer diplomatischen Beziehungen zu Belarus. Für Steven Blockmans von der Brüsseler Denkfabrik Centre for European Policy Studies (Ceps) hätte ein solcher Schritt einen ganz praktischen Vorteil: Belarussische Geheimdienstagenten könnten sich nicht mehr als Diplomaten ausgeben und in der EU geschützt bewegen. „Wenn die Mitgliedsstaaten ihre diplomatischen Beziehungen mit Belarus runterfahren würden, dann würde die EU nicht nur die Sprache der Macht sprechen“, unterstreicht Blockmans. „Mitgliedsstaaten würden auch die Flügel von KGB-Spionen stutzen, die auf europäischen Boden agieren.“

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Der Vorfall vom Pfingstmontag hat eine große Schwäche der EU aufgedeckt: Bisher teilen die Mitgliedsstaaten das Wissen ihrer Geheimdienste zu wenig. Zum Teil ist das gewollt. Mitgliedsstaaten wollen Informationen nicht weitergeben, wenn sie ihren politischen Interessen widersprechen. Deutschland war bisher bei wirtschaftlichen Sanktionen allgemein sehr zurückhaltend und hatte somit keinen Anreiz bestimmte Informationen zu teilen. Die Weitergabe von kritischem Wissen scheitert bisher aber auch ganz schlicht an einem praktischen Problem. Es fehlt an gesicherten Kommunikationswegen zwischen den Mitgliedsstaaten und auch nach Brüssel. „Auf der Arbeitsebene ist dieses Problem seit über einem Jahrzehnt bekannt“, sagt Blockmans. „Es wird Zeit für eine politische Debatte über dieses Thema.“

Mehr zum Thema: Nach der Entführung eines belarussischen Regimekritikers bereitet die EU weitere Sanktionen vor. Schmerzhaft wären vor allem Angriffe auf den lukrativen Energiesektor. Dort mischt auch Altkanzler Gerhard Schröder mit.

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