Gegenbuchung oder Kredit? Darum streiten Ökonomen über Target-Salden

Quelle: imago images

Der Target-Saldo der Bundesbank nähert sich der Marke von einer Billion Euro. Ökonomen streiten über die Bedeutung der Salden für den Euro und die Risiken für die Steuerzahler.

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Gespannt blickten Deutschlands Ökonomen Anfang der Woche nach Frankfurt. Dort gab die Deutsche Bundesbank eine Zahl bekannt, die lange Zeit nur geldtheoretische Esoteriker interessierte, die nach Ausbruch der Finanzkrise zu einer öffentlichen Diskussion wurde und ein großes Presseecho ausgelöst hatte: der Target-Saldo. Target, das ist das Zahlungsverkehrssystem zwischen den nationalen Notenbanken des Eurosystems, über das diese grenzüberschreitende Zahlungsströme abwickeln - eine Art Clearingsystem der Zentralbanken.

Im Juli schrumpften die Netto-Forderungen der Deutschen Bundesbank aus dem Target-System um 62 Milliarden auf  913 Milliarden Euro. Im Vorfeld hatten viele Ökonomen damit gerechnet, dass der Saldo im Juli über die Marke von einer Billion Euro steigt. Das hatte unter Ökonomen eine heftige Diskussion über die Bedeutung der Target-Salden ausgelöst. Auch wenn der symbolträchtige Sprung über die 1-Billion-Marke im Juli ausblieb, ist der Aufwärtstrend der Salden nach Einschätzung der Bundesbank weiter intakt. Der Grund dafür ist das Kaufprogramm des Eurosystems, mit dem dieses aktuell für 30 Milliarden Euro Staats- und Unternehmensanleihen kauft. Ein Ende der Diskussion um die Target-Salden ist daher nicht abzusehen.

"Gegenbuchungen" oder "öffentlicher Überziehungskredit" 

Dabei stehen sich zwei Lager gegenüber. Die einen sehen in den Salden einen „eingebauten Risikotransfer“ innerhalb der Eurozone, wie es Thomas Mayer, Chef des Flossbach von Storch Research-Instituts, formuliert. Hans Werner Sinn, der ehemalige Chef des Münchner Ifo-Instituts und der wohl bekannteste Kritiker der Target-Salden, spricht von einem „öffentlichen Überziehungskredit“, den die Bundesbank anderen Länder des Euroraums via Target gewährt. Dieser ermögliche es den Unternehmen und Bürgern dort, „einen Nettozustrom von Waren, Dienstleistungen und Vermögenswerten aus Deutschland zu bezahlen.“

Das andere Lager, zu dem Martin Hellwig, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn zählt, sieht in den Target-Salden lediglich „Gegenbuchungen im Rahmen des Zahlungsverkehrs“.
Wer hat Recht?

Um zu verstehen, worum es beim Target-System geht, muss man wissen, dass die Zahlungen über dieses System – etwa Warenkäufe oder Geldanlagen im Ausland -  mit Zentralbankgeld abgewickelt werden, das Zentralbanken per Geldleih- und Ankaufgeschäften den Geschäftsbanken zur Verfügung stellen.

Dezentrales System der 19 nationalen Notenbanken

Dass es eines Zahlungsverkehrssystems zwischen den nationalen Notenbanken des Eurosystems bedarf, liegt an dessen dezentralem Aufbau. Das Eurosystem besteht aus der Europäischen Zentralbank und den 19 nationalen Notenbanken. Letztgenannten kommt dabei die Aufgabe zu, die in ihrem Gebiet ansässigen Banken mit Liquidität zu versorgen.

Die nationalen Zentralbanken erwerben zudem einen Großteil der Staatsanleihen, auf deren Kauf sich die Zentralbanker im Rat der EZB im Rahmen der quantitativen Lockerung der Geldpolitik geeinigt haben. Alle Notenbanken besitzen daher eine eigene Bilanz. Gewinne und Verluste werden jährlich im Rahmen der konsolidierten Bilanz des Eurosystems zusammengefasst und anschließend auf die einzelnen Notenbanken entsprechend deren Anteil am Eigenkapital der EZB verteilt. Auf die Bundesbank entfallen rund 26 Prozent der Gewinne beziehungsweise Verluste des Eurosystems.

Starker Anstieg der Target-Salden

Die Geschäftsbanken in der Eurozone haben keine Konten bei der EZB, sondern bei ihren nationalen Notenbanken. Auf diesen Konten halten sie Zentralbankgeld als Mindestreserve oder Überschussliquidität. Überweist ein Bürger oder ein Unternehmen Geld von einem Euroland in ein anderes, löst das entsprechende Buchungen und Gegenbuchungen auf den Zentralbankkonten der Finanzinstitute und damit in den Bilanzen der Notenbanken aus. 

Fließt beispielsweise einem Euro-Land mehr Geld aus anderen Ländern der Eurozone zu als dorthin abfließt, entsteht ein positiver Target-Saldo in der Bilanz seiner Notenbank. Diese weist dann eine buchungstechnische Forderung gegenüber der EZB aus. Spiegelbildlich weisen Länder, aus denen per Saldo Geld abfließt, negative Target-Salden, also Verbindlichkeit gegenüber der EZB, aus.

Im Gefolge der Finanzkrise sind die Target-Salden drastisch angeschwollen. Mitte 2012 wies die Bilanz der Bundesbank Netto-Forderungen von 751 Milliarden Euro aus (siehe Grafik). In Spanien und Italien hingegen sammelten sich damals Netto-Verbindlichkeiten von 280 beziehungsweise  400 Milliarden Euro an.
Über die Ursachen dieses Anstiegs wurde heftig gestritten, ob dafür nur der massive Abzug von Kapital aus den Krisenländern verantwortlich war oder ob dieser Anstieg zusätzlich eine Finanzierung der Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer darstelle.

Anleger aus Spanien, Italien, Portugal, Irland und Griechenland brachten ihr Geld in „sichere Häfen“ nach Deutschland, die Niederlande oder Luxemburg. Das abgezogene Zentralbankgeld in den Krisenländern wurde durch sehr umfangreiche Refinanzierungskredite der Zentralbanken ersetzt. Erst als sich die Eurokrise beruhigte, bildeten sich die Target-Salden wieder zurück.

Seit dem Frühjahr 2015 aber nehmen sie wieder zu. Das ist vor allem auf das Anleihekaufprogramm des Eurosystems zurückzuführen. Denn die Verkäufer von Staatsanleihen sitzen nicht immer in dem Land, das die Anleihen begeben hat. Kauft beispielsweise die Banca d’Italia ein italienisches Papier von einem Anleger mit Sitz in Deutschland, so fließt das Geld über das Target-System nach Deutschland.  Bei der Bundesbank entsteht eine Forderung, bei der Banca d’Italia eine Verbindlichkeit gegenüber dem Eurosystem.

Kein direkter Zugriff auf die Sicherheiten

Ökonomen streiten aktuell darüber, ob und welche Risiken sich mit den Target-Salden verbinden. So kritisiert Hans-Werner Sinn, dass das Target-System im Zusammenspiel mit den nationalen Zentralbanken den Krisenländern die Möglichkeit bietet, eigenständig Geld zu schöpfen, das dann von den Bürgern und Unternehmen dieser Länder benutzt wird, um Güter und Vermögenstitel in anderen Euroländern zu erwerben. Ähnlich sieht es Frank Westermann, VWL-Professor an der Universität Osnabrück. Seiner Ansicht nach spiegeln die Target-Verbindlichkeiten "den Anteil des gedruckten Geldes wider, mit dem im Ausland Vermögenstitel wie Aktien, Staatsanleihen oder Immobilien gekauft wurden sowie um Kredite zurück zu zahlen. Im Gegenzug wurden Sicherheiten hinterlegt auf die die Bundesbank keinen direkten Zugriff hat".

Wann ist eine Target-Forderung "uneinbringlich"?

Otmar Issing, der ehemalige Chefvolkswirt der EZB, schrieb daher in einem Buchbeitrag zur Target-Diskussion bereits im Jahr 2015: „Scheidet ein Defizitland aus dem Euro aus, dürften sich diese Forderungen (der EZB, Red.) als weitgehend uneinbringlich erweisen. Der Verlust ist dann von den verbleibenden Notenbanken des Eurosystems entsprechend den Kapitalanteilen zu tragen.“

Dagegen stellen nach Ansicht von Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die Target-Salden keine Gefahr, sondern eine Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren der Währungsunion dar. „Das Target-System hat es deutschen Banken möglich gemacht, knapp 500 Milliarden Euro aus anderen Euroländern seit 2008 abzuziehen, ohne dabei Verluste zu machen. Wir machen uns nicht bewusst, dass wir Deutschen die Profiteure sind.“, sagt Fratzscher. Ohnehin erlebte Deutschland im Falle eines Euroaustritts eine massive Krise, da die Arbeitslosigkeit stiege und die Einkommen sänken. Daher wären in diesem Fall „die Target-Forderungen wirklich die letzte Sorge, die ich hätte“, so Fratzscher in einem kürzlichen ausgestrahlten Fernsehbeitrag.

Ähnlich argumentiert Hellwig. Die Bundesbank sei eine Art Filiale der EZB, die geldpolitische Operationen im Rahmen des Eurosystems wahrnimmt. „Wiese man diese Filialtätigkeit bilanziell bei der EZB aus, so erübrigte sich die Diskussion“, sagt Hellwig.

Euro-Austritt: ein hypothetischer Fall

Im Kern geht es bei dem Streit also um die Interpretation des Charakters des Eurosystems – und um die Frage, ob dieses jemals auseinanderbricht. Während Fratzscher und Hellwig die Target-Salden lediglich als Reflex technischer Buchungsvorgänge eines auf ewig angelegten Zentralbanksystems interpretieren, betonen die Kritiker, dass sich hinter den akkumulierten Salden im Falle eines Auseinanderbrechens der Eurozone milliardenschwere Belastungen für  die Steuerzahler insbesondere in Deutschland verbergen.

Die Bundesbank selbst hält sich in der Diskussion bedeckt. Auf Anfrage der WirtschaftsWoche teilt sie mit, dass „der Austritt eines Landes aus der Währungsunion ein in der Öffentlichkeit diskutierter hypothetischer Fall ist, bei dem sich Teile der negativen TARGET2-Salden in bilanzwirksamen Risiken manifestieren könnten“. Und: „Erst wenn man eine Restforderung für uneinbringlich hielte, entstünde bei der EZB durch deren Abschreibung ein bilanzwirksamer Verlust“. Dieser könnte dann anteilig von der Bundesbank getragen werden.

Die Diskussion über die Target-Salden bleibt bestehen

Die Frage ist nur: Wann hält die EZB eine Forderung für uneinbringlich?  Denkbar ist, dass die Target-Salden im Falle eines Euroaustritts Gegenstand politischer Verhandlungen werden.

In diesem Fall könnten die Target-Verbindlichkeiten zu einem Faustpfand des austretenden Landes werden. Denn irrelevant sind die Target-Salden in einem solchen Falle nicht. Das zeigt auch die Antwort von EZB-Chef Mario Draghi auf die Anfrage von zwei Europaabgeordneten der Fünf-Sterne-Bewegung aus Italien im vergangenen Jahr: „Sollte ein Land das Eurosystem verlassen, müssten die Forderungen oder Verbindlichkeiten seiner nationalen Zentralbank gegenüber der EZB in Gänze beglichen werden“.     

Damit dürfte Eines klar sein: Tritt ein Land aus der Eurozone aus, werden die Target-Salden nicht nur unter Ökonomen, sondern auch unter Politikern für heftigen Streit sorgen.

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