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Europafahne und britische Fahne Quelle: imago images

Brexit: Wer zuletzt lacht…

Die Coronakrise hat die Verhandlungen der Europäischen Union mit Großbritannien über die künftigen Beziehungen nicht leichter gemacht. Im Gegenteil: Seit Wochen sind sie festgefahren. Wohin führt das für Anleger?

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Das Coronavirus, seine Verbreitung, seine Tödlichkeit und die ausgelösten Lockdowns dominierten im ersten Halbjahr dieses Jahres die öffentliche Wahrnehmung, aber auch die an den Börsen. Die Kapitalmärkte wurden auf eine Achterbahnfahrt geschickt, bei der der beispiellose Einbruch der Konjunktur und die negativen realwirtschaftlichen Impulse die Strecke nach unten markierten, die ebenso beispiellosen fiskalischen Ausgabenprogramme und die durch die Notenbanken als Gegenmaßnahmen ausgelöste Liquiditätsschwemme die Strecke nach oben. Und die Achterbahnfahrt ist noch nicht vorbei, sie dürfte in den nächsten Monaten weitergehen.

Währenddessen machte die Zeituhr, was sie immer tut. Sie drehte sich weiter. Jetzt, Anfang Juni, nähern wir uns einem weiteren wichtigen Datum für die Zukunft Europas, dem 30. Juni. Bis dahin muss die bis Ende des Jahres laufende Übergangsfrist zur Verhandlung der zukünftigen Beziehungen („Future Relationship“) zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union (EU) verlängert werden. Wenn dies nicht geschieht, dann gilt für die künftigen Beziehungen automatisch, was bis zum Jahresende erreicht und ratifiziert wurde. Bei den Verhandlungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wird der eine oder andere einwenden, den Film hätte man im letzten Jahr ja schon gesehen, und vor dem Finale hätte es drei neue Folgen gegeben, die ursprünglich nicht geplant waren – warum also jetzt die Aufregung? 

Nun, diese Fortsetzung ist tatsächlich ein wenig anders. Zum einen hat Großbritannien zum Jahresanfang die Europäische Union verlassen. Es gelang also nicht, mit vielen kontinuierlichen Verlängerungen das zu verhindern, was Europapolitiker als katastrophalen Unfall auf dem Wege zu einer immer tiefer integrierten Union sahen, den britischen Exit. Die erste Staffel ist abgeschlossen.

Die zweite Staffel, die Verhandlungen zur Bestimmung der zukünftigen Beziehungen, wurde unmittelbar persönlich durch Corona behindert. Der Verhandlungsführer der EU, Michel Barnier, erkrankte daran, genauso wie etwas später der britische Premierminister Boris Johnson. Die unter dem Stichwort „Social Distancing“ notwendigen Vorsichtsmaßnahmen, wie Videokonferenzen, lassen eine erfolgreiche Brüsseler Nachtsitzung nicht zu. Es ist deswegen unmöglich, sich während langer, bis in die tiefe Nacht reichender Verhandlungen in wechselnden kleinen Gruppen in Nebenzimmer zu verziehen, und Lösungen vorzubereiten, die nicht zu Beginn in das große Forum eingebracht wurden. Damit braucht eine Lösungsfindung mehr Zeit.

Den offiziellen Verlautbarungen folgend sieht es nicht so erfolgreich aus: Michel Barnier wies zuletzt darauf hin, dass seit dem Beginn der Verhandlungen kaum ein substanzieller Fortschritt erzielt werden konnte und dass sich damit die Verhandlungen gar bis in den Oktober hineinziehen könnten, während von britischer Seite eine Verlängerung weiterhin kategorisch ausgeschlossen wird. 

Zudem dürften Entwicklungen, die als Reaktion auf Corona gedacht waren (insbesondere der European Recovery Fund) oder eher zufällig in diese Zeit fielen (Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Staatsanleiheankaufprogramm), den Geschmack der Briten auf ein institutionalisiertes Europa à la EU noch deutlich vermindert haben und dazu beitragen, die Verhandlungen nicht zu verlängern. Ihre Bereitschaft, in den großzügig mit Transfers ausgestatteten Recovery Fund einzuzahlen, dürfte minimal sein, und den Drang, das Kapitel EU baldmöglichst endgültig abzuschließen, fördern.

Hinzu kommt das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das völlige Ausblenden des deutschen Verfassungsgerichts durch den Europäischen Gerichtshof, das sich explizit auf die Europäischen Verträge berufen hat, und das dort festgehaltene Prinzip der Einzelermächtigung, sollte Wasser auf die Mühlen derer in Großbritannien sein, die den Brexit auch mit dem Misstrauen gegenüber der EU-Gerichtsbarkeit begründet haben. Ohne Frage hat sich in den vergangenen Monaten die Wahrscheinlichkeit für eine Verlängerung der Übergangsperiode über den 31.12.2020 hinaus vermindert.

Die Kapitalmärkte reagieren darauf wenig, das britische Pfund ist wie immer Hauptbarometer. Aktuell dominiert die pandemiebedingte Wirtschaftskrise, die ihresgleichen seit Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht gesehen hat, und eine völlig beispiellose Kombination aus geld- und fiskalpolitischen Stimulus. Die Kapitalmärkte befinden sich derzeit in einer – temporären – Phase der Selbstgefälligkeit: So selbstverständlich die Überzeugung, dass die Politik es schon richten wird, insbesondere die Notenbanken, so selbstverständlich wird eine Verlängerung der Brexit-Verhandlungen erwartet.

Die institutionellen Eckpunkte sind in der jetzigen Phase ganz andere: Das „Future Relationship Agreement“ muss nicht nur in einer eilends zusammengestellten Konferenz der Regierungschefs und beim Europäischen Parlament durchgewunken werden, sondern es müssen auch alle beteiligten derzeitigen Mitgliedsstaaten der EU zustimmen. Dieser Prozess kostet Zeit. Es ist nicht zu erwarten, dass alle Mitgliedsländer ihre jeweiligen Parlamente zum Durchwinken anhalten werden. Damit muss der Rahmen im dritten Quartal gesetzt sein, wenn es nicht in die Verlängerung geht. Bis dahin ist ein umfängliches Freihandelsabkommen nahezu unmöglich, bestenfalls geht die Entwicklung in Richtung einer abgespeckten Vereinbarung. Schlechtestenfalls aber droht der EU27 und UK ab Januar 2021 einen Handelsvereinbarung auf Basis der WTO-Regeln. Hält der derzeitige Verhandlungsstillstand also an, gerät der Kurs des britischen Pfundes sehr wahrscheinlich unter Druck.

Ob langfristig die aktuell verfolgte Ausrichtung in der EU dominiert, bleibt offen. Der Konkurrenzkampf könnte sich auch zu einem Wettstreit der Systeme entwickeln. Mit dem Recovery Fund machen die EU-Europäer einen weiteren Schritt in ein Wirtschaftssystem der französisch geprägten „Planification“, während bei den Briten sicher die marktwirtschaftlichen Prinzipien noch stärker herausgearbeitet werden, die bislang auch in Deutschland, den Niederlanden oder den nordischen Ländern dominieren. Zeigt sich die Marktwirtschaft mit der Betonung der Eigenverantwortung als das längerfristig überlegene System, dürfte, nimmt man den Kurs des britischen Pfundes als Gradmesser, die längerfristige Entwicklung die derzeitigen Pfund- Pessimisten positiv überraschen.

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