Im Schatten der Bankentürme in Frankfurt ist sie schon spürbar, die steigende Inflation, die Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), so herbeisehnt. Quasi über Nacht kostet die Suppe im Frankfurter Biocafé in der City mit 5,80 Euro mal eben 30 Cent mehr als in der Woche zuvor.
Der Italiener gleich nebenan bietet sein Mittagsmenü, eine einfache Pasta mit kleinem Salat und Espresso nicht mehr wie am Vortag für 9,90 Euro, sondern für 11,90 Euro an. „Geld ist billig wie nie zuvor, der EZB sei Dank“, rechtfertigt der italienische Kellner den Aufschlag lachend und lenkt seinen Blick schnell wieder auf sein Notebook. Der Mann will eine Wohnung in Frankfurt kaufen. Da die Immobilienpreise steigen und steigen, muss er langsam zu Potte kommen, sonst wird das nichts mit der schicken Eigentumswohnung in der Bankenstadt.
Geht es nach dem Willen von EZB-Chef Draghi, markieren die jüngsten Preisschübe auf dem Mittagstisch und dem Wohnungsmarkt der Mainmetropole noch längst nicht das Ende der Fahnenstange. Anfang des Monats drückte Europas oberster Notenbanker den Leitzins auf die mikroskopische Größenordnung von 0,05 Prozent herunter. Zudem kündigte er an, die EZB werde ab Oktober mit Krediten verbriefte Wertpapiere und Pfandbriefe von den Banken kaufen und diese mit Zentralbankgeld fluten.
Reaktionen auf EZB-Zinssenkung und Wertpapierkäufe
Die EZB senkt im Kampf gegen eine drohende Deflation ihren Leitzins überraschend auf das neue Rekordtief von 0,05 Prozent. Der Schlüsselsatz für die Versorgung des Bankensystems mit Zentralbankgeld lag seit Juni bei 0,15 Prozent. In der anschließenden Pressekonferenz kündigte Zentralbank-Chef Mario Draghi zudem an, dass die EZB sogenannte Kreditverbriefungen (ABS) sowie Pfandbriefe aufkaufen wird. Ökonomen und Händler sagten dazu in ersten Reaktionen:
"Die EZB hatte ihr Pulver schon viel zu früh verschossen und die Zinsen zu weit gesenkt. Jetzt ist sie in der Liquiditätsfalle. Sie kann an dieser Stelle kaum noch etwas tun. Bedauerlicherweise deutet sich auch der Kauf von Anleihen durch die EZB an. Damit würde sie das Investitionsrisiko der Anleger übernehmen, wozu sie nicht befugt ist, weil es sich dabei um eine fiskalische und keine geldpolitische Maßnahme handelt. Eine solche Politik ginge zulasten der Steuerzahler Europas, die für die Verluste der EZB aufkommen müssten."
"Die Notenbanker argumentieren mit den zuletzt schwachen Konjunkturdaten und der geringen Inflation. Auch die gesunkenen mittelfristigen Inflationserwartungen wurden thematisiert. In diesem Zusammenhang wurden auch die Projektionen für Wachstum und Inflation in diesem Jahr nach unten angepasst. Insofern bleibt die Tür für weitergehende Lockerungsschritte weit geöffnet."
"EZB-Chef Mario Draghi hat geliefert, warum auch immer. Für uns ist das nicht gerade eine glückliche Maßnahme. Alle Banken und Vermögensverwalter sind jetzt in noch größerer Not, ihre Liquidität irgendwo zu parken, ohne bestraft zu werden. Auch die Sparer dürften sich verraten fühlen und werden immer mehr ins Risiko gezwungen."
"Die ökonomischen Wirkungen der heutigen Zinssenkung sind vernachlässigbar. Die EZB hat sich im Vorfeld der Zinsentscheidung unnötig unter Zugzwang gesetzt. Die Gefahr, dass der Euro-Raum in eine gefährliche Deflationsspirale rutscht, ist nach wie vor gering. Auf der anderen Seite wächst mit den Aktivitäten der EZB die Gefahr, dass die in mehreren Euro-Ländern dringend erforderlichen Wirtschaftsreformen weiter verschleppt werden."
"Das ist überraschend. Eine Zinssenkung hatte niemand so richtig auf der Agenda - zumal sie konjunkturell nichts bringt und verpuffen wird. Die Deflationsgefahr lässt sich damit nicht vertreiben. Dazu bedarf es eher eines Anleihen-Kaufprogramms. Die EZB signalisiert mit ihrer Maßnahme aber, dass sie sehr weit zu gehen bereit ist. Das ist eher ein symbolischer Schritt. Die realwirtschaftlichen Folgen sind bescheiden."
"Beginnt jetzt auch EZB-Chef Mario Draghi damit, Geld aus dem Hubschrauber abzuwerfen? Wenn Draghi um 14.30 Uhr mit der Pressekonferenz beginnt, wissen wir mehr. Dann wird sich zeigen, ob die Zinssenkung nur das Vorspiel für weiteres geldpolitisches Feuerwerk sein wird oder er damit den bequemsten Weg wählte, um unkonventionelle Maßnahmen in großem Stil ohne Gesichtsverlust abzuwenden."
"Das war schon eine heftige Überraschung, mit einer Zinssenkung hat kaum einer gerechnet. Bei der Senkung der Zinsen handelt es sich zwar nur noch um Nuancen, aber das ist ein wichtiges Signal an die Kapitalmärkte, dass die EZB bereit ist, alles zu tun, was nötig ist."
Zinsen gesenkt
Bereits im Juni hatten die Notenbanker die Zinsen gesenkt und den Geschäftsbanken langfristige Geldleihgeschäfte zu Minizinsen in Aussicht gestellt. Doch die wegbrechende Konjunktur, die schwächelnde Kreditvergabe sowie die sinkenden Teuerungsraten haben die Notenbanker in Alarmstimmung versetzt. Sie fürchten, die Euro-Zone könnte in eine Deflation stürzen, die die reale Schuldenlast der Staaten in ungeahnte Höhen katapultiert.
Dem wollen sie durch das erneute Öffnen der Geldschleusen entgegenwirken. Das Ziel: ein schwacher Euro, der die Importe verteuert und Inflation importiert. An den Märkten kam die Botschaft an. Kaum hatte Draghi die geplanten Geldspritzen verkündet, knickte der Euro gegenüber dem Dollar um drei Cent auf 1,29 ein. In den nächsten Monaten dürfte sich die Talfahrt der Gemeinschaftswährung fortsetzen.
Weniger Anleihen kaufen
Dazu trägt auch bei, dass die US-Notenbank sich anschickt, ihre Geldpolitik zu straffen. Auf ihrem Treffen in dieser Woche dürften die US-Währungshüter beschließen, weniger Anleihen als bisher zu kaufen und somit weniger Geld zu drucken. Mitte nächsten Jahres könnte nach Ansicht von Beobachtern die erste Leitzinserhöhung folgen. Damit driften die Zinsen zwischen der Alten und der Neuen Welt immer weiter auseinander. Geldanlagen in der Euro-Zone lohnen sich kaum noch. Die Ökonomen der US-Bank Goldman Sachs erwarten daher, dass sich der Euro in den nächsten zwölf Monaten auf 1,20 Dollar verbilligt. Ende 2017 werde er die Parität zum Dollar erreichen.
Deutschlands Exporteure mag das freuen, spült der schwache Euro ihnen doch zunächst zusätzliche Gewinne in die Kassen. Doch langfristig hat der Cocktail aus Niedrigzinsen und weicher Währung toxische Wirkungen auf die Wirtschaft. Er setzt Fehlinvestitionen in Gang, entwertet die Ersparnisse, mindert den Reformdruck und lähmt die Kostenkontrolle in den Unternehmen. Wachstum und Wohlstand sind in Gefahr.
2014 – ein heikles Jahr für die EZB
In gebührendem Abstand zu den Bankentürmen im Westend entsteht in Frankfurt das neue Hauptquartier der EZB. Wann genau die Notenbanker dort einziehen werden, ist noch nicht klar - geplant ist aber 2014. Die EZB bleibt aber auch im Frankfurter Euro-Tower. Hier werden die Bankenaufseher untergebracht. Geldpolitiker und Aufseher sollen also nach den Umzügen nicht unter einem Dach arbeiten - Interessenskonflikte sollen so auf ein Minimum reduziert werden.
Sabine Lautenschläger ist anstelle von Jörg Asmussen ins EZB-Direktorium eingezogen. Ebenfalls neu ist Lettlands Zentralbankchef Ilmars Rimsevics. Lettland ist das 18. Land, das den Euro eingeführt hat.
Lautenschläger, Rimsevics und die anderen Notenbanker müssen sich an eine neue Offenheit der EZB gewöhnen. Die Zentralbank könnte schon bald wie etwa die Federal Reserve in den USA Protokolle oder zumindest schriftliche Zusammenfassungen der Sitzungen des EZB-Rats publik machen.
Draghi will dem EZB-Rat dazu schon bald einen konkreten Vorschlag machen. Umstritten ist, wie genau sich die Öffentlichkeit künftig ein Bild vom Abstimmungsverhalten der einzelnen Notenbanker machen kann.
Die EZB geht mit einem rekordniedrigen Leitzins ins Jahr 2014: Seit November können sich die Geschäftsbanken bei ihr für 0,25 Prozent Zinsen refinanzieren. Zudem hat der EZB-Rat beschlossen, dass die Institute noch bis mindestens Mitte des übernächsten Jahres so viel Liquidität bekommen, wie sie bei der EZB abrufen - ohne Obergrenze. Damit ist das Finanzsystem zwar geschützt gegen Liquiditätsengpässe, doch stockt der Kreditfluss in den besonders krisengeplagten Ländern Südeuropas.
Zudem ist die Inflation in der Eurozone aus Sicht der Notenbanker zu niedrig. Die Zentralbanker betonen seit der letzten Zinssenkung, dass sie noch zahlreiche Pfeile im Köcher haben. Dazu gehören unter anderem weitere milliardenschwere Geldspritzen, um die Banken flüssig zu halten, sowie ein Strafzins für Banken, die Gelder lieber bei der EZB parken, als sie an Unternehmen und Haushalte als Kredit weiterzureichen.
Wenn die EZB wie geplant im November 2014 die Oberaufsicht über die Banken der Währungsunion übernimmt, hat sie zumindest die 128 größten Institute bereits auf Herz und Nieren geprüft. Denn in den nächsten Monaten steht der größte Gesundheitscheck der Branche auf dem Programm, den es je gegeben hat.
Ziel der EZB ist es, die Banken möglichst besenrein, also ohne schlummernde Altlasten in den Bilanzen, zu übernehmen.
Stagnierende Wirtschaftsleistung in der EU
Noch vor wenigen Monaten hatte niemand damit gerechnet, dass die Euro-Hüter die Geldschleusen so rasch so weit öffnen würden. Denn die Konjunktur in der Euro-Zone schien endlich Tritt zu fassen. Dann aber gingen die Stimmungsindikatoren plötzlich auf Talfahrt, später folgten die harten Daten. Im zweiten Quartal stagnierte die Wirtschaftsleistung in der Währungsunion, in Deutschland ging sie sogar zurück. Das hat mehrere Ursachen:
Die Ukraine-Krise hat die Unsicherheit für Unternehmen und Bürger erhöht. Die deutschen Exporte nach Russland sind im zweiten Quartal um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebrochen. Die Investitionslaune der Firmen ist dahin. Verschärft sich der Konflikt in der Ukraine, könnte die ohnehin fragile Konjunktur in der Euro-Zone endgültig abschmieren. Vor allem, wenn Russland im Zuge der sich hochschaukelnden Sanktionsspirale den westlichen Fluggesellschaften die Überflugerlaubnis über den russischen Luftraum entzieht.
Ukraine-Krise belastet das Tagesgeschäft
Längere Flugrouten trieben die Kosten in die Höhe und drehten die Integration der Weltwirtschaft ein Stück weit zurück. Die Folgen dürften insbesondere die deutschen Unternehmen zu spüren bekommen. In einer Umfrage der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer gaben jüngst 58 Prozent der in Russland aktiven deutschen Unternehmen an, die Ukraine-Krise belaste ihr Tagesgeschäft. Die Ökonomen des Deutschen Industrie- und Handelskammertages warnen, der Ukraine-Konflikt werde die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr einen Prozentpunkt Exportwachstum kosten.
Aus den übrigen Schwellenländern, wo die Geschäfte der europäischen Unternehmen in den vergangenen Jahren bombig liefen, kommen ebenfalls schlechte Nachrichten. Brasiliens Wirtschaft befindet sich in der Rezession, in China drücken rückläufige Immobilienpreise und -verkäufe auf das Wirtschaftswachstum, und in Indien dämpft die Hochzinspolitik die Konjunktur. Das erschwert es den Europäern, sich aus der Konjunkturflaute herauszuexportieren.
Die Reformverweigerung der Regierungen in Italien und Frankreich verschärft die Probleme noch. Regierungschef Matteo Renzi und Präsident François Hollande gefallen sich zwar darin, Reformen anzukündigen. Geliefert aber haben sie bisher so gut wie nichts. Italiens Wirtschaft schrumpft seit Jahren, das Bruttoinlandsprodukt liegt um zehn Prozent unter dem Niveau von 2008 (siehe Grafik). Nach Berechnungen der Ökonomen des Analyseinstituts Oxford Economics ist Italien das einzige Land Europas, in dem die Produktivität der Arbeitskräfte und der Maschinen seit dem Jahr 2000 anhaltend sinkt.
Mangelnde Innovationsfähigkeit, schlechte Bildung, Korruption, Bürokratie
Mangelnde Innovationsfähigkeit, schlechte Bildung, Korruption, eine überbordende Bürokratie und ein zementierter Arbeitsmarkt liegen wie Mehltau auf der Wirtschaft. Außer einer Ministeuerentlastung für Geringverdiener und einer halb garen Senatsreform hat Renzi nichts zustande gebracht, was den Namen Reformen verdiente. Anfang September versprach er, Italien binnen 1000 Tagen zu einem „zivilisierten Land“ zu machen. Experten sind jedoch skeptisch. „Das Risiko, dass der Schwung verpufft und die Reformen ausbleiben, ist hoch“, sagt Nicola Nobile, Ökonomin von Oxford Economics.
Kaum besser sieht es in Frankreich aus. Die Wirtschaft leidet unter dem hypertrophen Staat, den die Regierung in den vergangenen Jahren mit immer höheren Steuern gemästet hat. Der Arbeitsmarkt ist stark reguliert, die Kooperationsbereitschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern gering, die Arbeitslosigkeit hoch. Der Regierung fehlt der Wille, den Staatshaushalt zu sanieren. In der vergangenen Woche kündigte Finanzminister Michel Sapin an, die Regierung sehe sich außerstande, das Haushaltsdefizit wie versprochen 2015 unter die Maastrichter Obergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu drücken. Das sei frühestens 2017 möglich. Zuvor hatte die Regierung erklärt, die für das nächste Jahr vorgesehenen Einsparungen von 21 Milliarden Euro um ein bis zwei Milliarden Euro zu kürzen.
Der finanzpolitische Schlendrian, gepaart mit Nullwachstum, lässt die Staatsschulden Italiens und Frankreichs steigen. Verlieren die Märkte aber das Vertrauen in die beiden Länder, sind Hilfskredite durch den Euro-Rettungsschirm ESM kaum möglich. „Italien und Frankreich würden schon jeweils allein die Möglichkeiten des ESM bei Weitem überschreiten, da ihre Wirtschaftsleistung und ihr Anleihemarkt schlicht zu groß sind“, sagt Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank.
Druck auf EZB
So wächst der Druck auf die EZB, den Regierungen in Rom und Paris mit niedrigen Zinsen und höherer Inflation zu Hilfe zu eilen. „Die EZB wird zunehmend zum Ausputzer für die reformresistenten Regierungen“, kritisiert Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Nicht auszuschließen, dass die Reformverweigerung der Regierungen in Rom und Paris mit Kalkül erfolgt. Denn je schlechter es der Konjunktur und den Staatshaushalten in der Euro-Zone geht, desto stärker wird der Druck auf die EZB, die Staaten mit der Notenpresse zu finanzieren.
Der Währungsunion droht damit eine Entwicklung, wie sie Italien in den Siebzigerjahren erlebt hat. Um den Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu finanzieren, räumte die italienische Zentralbank Banca d’Italia damals dem Finanzminister eine Kreditlinie von 14 Prozent des Budgets zu einem Minizinssatz von einem Prozent ein. Später kaufte sie Anleihen des Staates, die dieser nicht am Markt platzieren konnte. 1975 befanden sich bereits 48 Prozent aller Staatspapiere im Besitz der Banca d’Italia. Die Folge der hemmungslosen Gelddruckerei war Inflation. In der Spitze schoss die Teuerungsrate auf 26 Prozent in die Höhe.
Die Haushaltsfinanzierung mit der Notenpresse ließ bei den Politikern in Rom alle Hemmungen fallen. Das Haushaltsdefizit sprang von drei Prozent vom BIP im Jahr 1970 auf zehn Prozent 1975. Der Schuldenberg wuchs von 36 Prozent der Wirtschaftsleistung 1969 auf 56 Prozent im Jahr 1975. Die Konsequenz: Italiens Währung ging auf steile Talfahrt.
Die ganz große Geldschwemme
In den nächsten Jahren könnte der Euro-Zone Ähnliches bevorstehen. „Ebenso wie damals die Banca d’Italia wird die EZB faktisch von den Finanzministern dominiert, Europa ist auf dem Weg in die italienische Währungsunion“, fürchtet Commerzbank-Chefökonom Krämer. Daher sei es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Frankfurter Währungshüter ebenso wie die italienische Zentralbank damals in großem Stil Staatsanleihen kaufe. Die jüngsten Beschlüsse der EZB, mit Krediten besicherte Wertpapiere (ABS) und Pfandbriefe zu erwerben, sei nur die „Ouvertüre“ für die ganz große Geldschwemme.
Auslöser könnte ausgerechnet die US-Notenbank Fed sein. Erhöht sie wie erwartet ihre Leitzinsen Mitte nächsten Jahres, fließen Anlegergelder von Europa nach Amerika. „Die EZB wird versuchen, den Euro-Raum gegen den Zinsanstieg aus Amerika durch den Ankauf von Staatsanleihen abzuschirmen“, prognostiziert Krämer. Die Zinsunterschiede zwischen den USA und Europa nehmen dann zu – und die nächste Abwertungswelle erfasst den Euro.
Noch gesteht die EZB nicht offen ein, dass sie den Euro zur Weichwährung machen will. So begründete EZB-Chef Draghi die avisierten ABS-Käufe und die im Juni beschlossenen Geldleihgeschäfte mit dem Ziel, die Kreditvergabe in den Krisenländern wieder in Gang zu bringen. Indem die Banken ABS an die EZB verkaufen, erhalten sie von der Zentralbank frisches Geld, das sie verwenden können, um neue Kredite zu refinanzieren.
Stimmen aus dem Ausland zur EZB-Politik
„Bei der Verkündung der EZB-Maßnahmen war ein Hauch von Verzweiflung zu spüren. Europa befindet sich im Sog eines Deflationsstrudels. Es ist zwar gut, zu wissen, dass sich die EZB dessen bewusst ist. Aber die Erleuchtung könnte zu spät gekommen sein.“
„Die Notenbank in Frankfurt hat ihr wirksamstes Instrumentarium weitgehend ausgereizt, die Strukturschwäche in der Euro-Zone kann und wird sie mit ihren Mitteln nicht überwinden können. […] Die EZB will um jeden Preis den Eindruck vermeiden, ihr gingen im Kampf um die Erhaltung der Währungsunion und des Euro die Mittel aus. Doch ihr Präsident gibt inzwischen unumwunden zu, dass es immer schwieriger werde, allein mit der Geldpolitik für Preisstabilität in der Euro-Zone zu sorgen.“
„Jetzt ist die perfekte Zeit für eine fiskalische Expansion und nicht für eine weitere Schrumpfung. Europa kommt gerade aus einer schweren Rezession, die von unzureichender Nachfrage verursacht wurde. Die Rentenerträge sind auf einem historischen Tiefpunkt, und viele Länder haben ungenutzte Kapazitäten im Bausektor. Wer glaubt, die EZB könne die Lage mit noch niedrigeren als den ohnehin schon minimalen Zinsen retten, der irrt.“
„Genau in dem Moment, als die amerikanische Notenbank Fed ihre Geldpolitik strafft, entschied sich die EZB, ihre zu lockern. Das Zusammenwirken wertet logischerweise den Euro ab, zur Zufriedenheit Frankreichs. Doch Draghi kann die Wirtschaften Europas nicht allein ankurbeln. Jetzt liegt es an jedem Land selbst, sich zu reformieren.“
„Es ist keine starke Waffe, wie das Quantitative Easing, um die Stagnation zu bekämpfen. Doch das neue Programm, das Mario Draghi zum Ankauf von Bankpapieren angekündigt hat, könnte sich trotzdem als sehr effizientes Instrument erweisen.“a
Schlechte Absatzaussichten und hohe Arbeitslosigkeit
Zudem setzt der ABS-Verkauf Eigenkapital der Banken frei. Damit könnten die Banken neue Kredite unterlegen. Das nutzt jedoch nichts, weil die Kreditnachfrage in den Krisenländern am Boden liegt. Unternehmen und Bürger ächzen dort noch immer unter hohen Altschulden, ihre Lust auf neue Kredite ist daher gering. Zudem dämpfen die schlechten Absatzaussichten und die hohe Arbeitslosigkeit den Wunsch nach neuen Schulden.
Der Hinweis der EZB auf die lahme Kreditvergabe dürfte daher in erster Linie ein Ablenkungsmanöver sein, um ihre Weichspül-Pläne für den Euro zu kaschieren. Verräterisch war die Bemerkung von EZB-Chef Draghi, er wolle die Bilanzsumme der Zentralbank, die seit geraumer Zeit schrumpft, wieder auf den Stand von Mitte 2012 erhöhen. Denn dazu müssen die Währungshüter rund 1000 Milliarden Euro an frischem Zentralbankgeld in das Bankensystem pumpen.
Weil die Kreditnachfrage stockt, werden die Banken einen Großteil des Geldes ins Ausland schleusen, wo ihnen höhere Zinsen und Renditen winken. So bieten zehnjährige US-Staatsanleihen derzeit eine Rendite von rund 2,5 Prozent, 1,5 Prozentpunkte mehr als Bundesanleihen mit gleicher Laufzeit. Anlagen in Schwellenländern verzinsen sich sogar im Schnitt mit 6,5 Prozent.
Die Folgen der EZB-Niedrigzinspolitik
Werden die Zinsen künstlich abgesenkt, so verringert sich der Reformdruck auf Regierungen und Banken, ihre Haushalte beziehungsweise Bilanzen zu verbessern.
Ein künstlich tief gehaltener Zins verhindert, dass unprofitable Investitionsprojekte also Fehlinvestitionen aufrecht und befördert werden.
Künstlich tiefe Zinsen lösen (inflationäre) Spekulationswellen aus, führen zu „Boom-and-Bust“-Zyklen: überhitzte Situationen, in denen, wenn niemand mehr bereit ist, Kredite zu finanzieren, alles in sich zusammenbricht.
Künstlich niedrig gehaltene Zinsen befördern die Schuldenwirtschaft, insbesondere die der Staaten und der Bankenindustrie.
Negativer Einlagenzins bedeutet Strafe für Banken, die ihr Geld bei der Notenbank parken
„Die jüngsten Lockerungsmaßnahmen der EZB zementieren die Position des Euro als Finanzierungswährung für Carry-Trades“, urteilt Valentin Marinov von der Citigroup in London. Die EZB sei die erste Zentralbank, die nicht nur Geld in die Märkte pumpe, sondern auch Banken durch einen negativen Einlagenzins dafür bestrafe, wenn sie Geld bei der Notenbank parken. „Die Finanzinstitute werden geradezu gedrängt, ausländische Vermögenswerte zu kaufen“, sagt Marinov. Das erhöht das Angebot an Euro und drückt den Wechselkurs nach unten.
Ein schwacher Euro verbilligt zwar die Exporte, aber er verteuert auch die Importe. Der höhere Preisauftrieb im Inland steigert das nominale Wirtschaftswachstum. Liegt die Wachstumsrate des nominalen BIPs über dem Zins, zu dem sich die Regierung verschuldet, bremst dies den Anstieg der Schuldenquote, im günstigsten Fall sinkt diese sogar. Kein Wunder, dass vor allem Politiker aus den hoch verschuldeten Ländern der Euro-Zone nicht müde werden, niedrigere Zinsen und eine Abwertung des Euro zu fordern. Die Zentralbank wird zunehmend zum Lakai der Regierungen.
Die Kollateralschäden der Minizins- und Weichwährungsstrategie sind gigantisch. „Die Erfahrung zeigt, dass viele Regierungen sinkende Zinsen als Aufmunterung verstehen, noch mehr Schulden zu machen und Reformen auf die lange Bank zu schieben“, warnt Commerzbanker Krämer. Steigt der Schuldenberg, wächst der Druck auf die EZB, die Zinsen weiter zu senken und niedrig zu halten, damit der Finanzminister den Schuldendienst stemmen kann. Es entsteht eine Spirale aus steigenden Schulden und sinkenden Zinsen. Am Ende droht der Kollaps des gesamten Geldsystems.
Staatsanleihen und Festgelder in der Euro-Zone
Für die Sparer sind das denkbar schlechte Nachrichten – zumindest, wenn sie ihr Geld in vermeintlich sicheren Staatsanleihen und Festgeldern in der Euro-Zone geparkt haben, anstatt es mit Auslandsanlagen in Sicherheit zu bringen. Schon jetzt gleichen die Magerzinsen, die Staatspapiere und Festgelder abwerfen, kaum die Geldentwertung aus. Treibt der schwache Euro die Teuerung in die Höhe, wird die Geldanlage zur Geldvernichtung.
Dazu kommt: Je länger die Zinsen auf Guthaben hinter der Inflationsrate zurückbleiben, desto schwieriger wird es für die jüngeren Generationen, einen auskömmlichen Kapitalstock fürs Alter aufzubauen. „Ein 35-Jähriger, der eine monatliche Zusatzrente von 600 Euro ab dem 65. Lebensjahr anstrebt, muss bei zwei Prozent realer Verzinsung monatlich 242 Euro zur Seite legen; bei einem Realzins von minus einem Prozent sind es schon 513 Euro, mehr als das Doppelte“, hat Reiner Osbild, Professor an der Hochschule in Heidelberg, errechnet. Vielen Erwerbstätigen droht im Alter Armut.
Die negativen Folgen eines weichen Euro werden auch Touristen spüren, die ihren Urlaub außerhalb der Euro-Zone verbringen wollen. Sie müssen für das Bier am Thailand-Strand oder den Eintritt in den US-Nationalpark deutlich tiefer in die Taschen greifen. Seit Anfang Mai hat der Euro gegenüber allen wichtigen Währungen abgewertet. So könnte es den Bewohnern der Euro-Zone so ergehen wie den Italienern in den Siebzigerjahren. Damals haben sie auf Urlaube im Ausland nicht nur deshalb verzichtet, weil es an der heimischen Adria und Riviera so schön ist, sondern weil sie sich mit ihrer weichen Lira keinen Trip in andere Länder leisten konnten.
Das sind die drei Leitzinssätze der EZB
Der wichtigste Leitzins ist der Hauptrefinanzierungssatz. Er legt den Mindestzins fest, den Geschäftsbanken der EZB für einen Kredit mit einwöchiger Laufzeit im Rahmen der sogenannten Tenderauktionen bieten müssen. Änderungen wirken sich in der Regel direkt auf die Zinsen am Geld- und am Kapitalmarkt aus.
Für Banken, die sehr kurzfristig Geld brauchen, wird es teurer, hier bietet die EZB die sogenannte Spitzenrefinanzierungsfazilität an. Diese Kredite haben eine Laufzeit von einem Tag. Der Zins, den Banken für das über Nacht geliehene Geld zu zahlen haben, ist der Spitzenrefinanzierungssatz. Er liegt in der Regel rund einen Prozentpunkt über dem Hauptrefinanzierungssatz.
Die Einlagefazilität ist das Gegenstück zur Spitzenrefinanzierungsfazilität. Sie gibt Banken die Möglichkeit, einen Überschuss an flüssigen Mitteln bis zum nächsten Geschäftstag bei der Zentralbank zu parken. Die Verzinsung gibt der Einlagefazilitätssatz an. Spitzen- und Einlagefazilität sind Instrumente, mit denen die EZB weitere Feinsteuerung verwirklichen kann. Wenn die Banken zum Beispiel nur sehr wenig oder gar keinen Zins auf das Geld bekommen, das sie bei der EZB parken, dann steigt der Anreiz, es an einen Kunden zu verleihen. Derzeit ist der Einlagezins negativ - und bestraft somit Banken, die Geld bei der EZB parken.
Konjunktur in Fahrt bringen?
Politiker und Notenbanker setzen dennoch darauf, die Abwertung werde die Ausfuhren ankurbeln und die Konjunktur in Fahrt bringen. Tatsächlich spült ein schwacher Euro den Exporteuren zusätzliches Geld in die Kassen, etwa wenn sie ihre Erlöse im Dollar-Raum in Euro umtauschen. „Die Exporteure erhoffen sich vom sinkenden Euro durchaus Windfall-Profits durch erhöhte Wettbewerbsfähigkeit im Dollar-Raum, also im Wesentlichen USA und Nahost“, sagt Anton Börner, Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen.
Doch allzu stark dürfte ein abwertungsbedingter Exportschub für Deutschland nicht ausfallen. Das zeigen Modellrechnungen der Commerzbank. Wertet der Euro gegenüber allen wichtigen Handelspartnerländern um 25 Prozent ab, steigert dies das Exportniveau unter sonst gleichen Umständen um gerade mal drei Prozent.
Der Grund dafür dürfte sein, dass die deutschen Unternehmen keine Billigheimer sind, die ihre Waren vornehmlich über den Preis losschlagen, sondern vielmehr durch hohe Qualität zu überzeugen wissen. Dies relativiert den Einfluss des Preises auf die Preisentscheidungen der Besteller deutscher Waren im Ausland. Etwas höher ist der Impuls der Abwertung dagegen für ein Land wie Spanien. Das Land könnte sein Exportniveau bei einer Abwertung des Euro um 25 Prozent um etwa sieben Prozent steigern.
Warnung vor dem süßen Gift der Abwertung
Die Kehrseite der Abwertungs-Medaille ist jedoch, dass die Exporteure mehr Geld für den Import von Vorprodukten aus Ländern außerhalb der Euro-Zone auf den Tisch legen müssten. Dieser Kostenschock träfe die deutschen Unternehmen besonders hart, da ihre Ausfuhren im Schnitt zu 40 Prozent aus importierten Vorleistungen bestehen. Reichen sie die höheren Kosten der Einfuhren über die Preise an ihre Kunden weiter, verpufft die durch die Abwertung gewonnene Wettbewerbsfähigkeit zum Teil wieder.
Thomas Mayer, Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Instituts, warnt daher vor dem süßen Gift einer Abwertung. „Kurzfristig bringt sie den Ländern Erleichterung, langfristig schmälert sie jedoch ihren Lebensstandard, denn sie verteuert die Importe, sediert die Anreize zur Kostenkontrolle in den Unternehmen und mindert den Reformdruck auf die Politik“, urteilt Mayer.
Für die Zukunft der Währungsunion ist er daher skeptisch. „Der Euro-Zone droht das gleiche Schicksal wie früheren Währungsunionen: Die wirtschaftlich schwachen Länder übernehmen das Ruder und zwingen die Gemeinschaft zu inflationieren. Es ist dann nur noch eine Frage der Zeit, bis die stabilitätsorientierten Länder aussteigen“, hofft Mayer.
Der unverhoffte Preisschub für die Pasta beim Italiener im Frankfurter Bankenviertel sollte EZB-Chef Draghi eine Warnung sein.