Im Schatten der Bankentürme in Frankfurt ist sie schon spürbar, die steigende Inflation, die Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), so herbeisehnt. Quasi über Nacht kostet die Suppe im Frankfurter Biocafé in der City mit 5,80 Euro mal eben 30 Cent mehr als in der Woche zuvor.
Der Italiener gleich nebenan bietet sein Mittagsmenü, eine einfache Pasta mit kleinem Salat und Espresso nicht mehr wie am Vortag für 9,90 Euro, sondern für 11,90 Euro an. „Geld ist billig wie nie zuvor, der EZB sei Dank“, rechtfertigt der italienische Kellner den Aufschlag lachend und lenkt seinen Blick schnell wieder auf sein Notebook. Der Mann will eine Wohnung in Frankfurt kaufen. Da die Immobilienpreise steigen und steigen, muss er langsam zu Potte kommen, sonst wird das nichts mit der schicken Eigentumswohnung in der Bankenstadt.
Geht es nach dem Willen von EZB-Chef Draghi, markieren die jüngsten Preisschübe auf dem Mittagstisch und dem Wohnungsmarkt der Mainmetropole noch längst nicht das Ende der Fahnenstange. Anfang des Monats drückte Europas oberster Notenbanker den Leitzins auf die mikroskopische Größenordnung von 0,05 Prozent herunter. Zudem kündigte er an, die EZB werde ab Oktober mit Krediten verbriefte Wertpapiere und Pfandbriefe von den Banken kaufen und diese mit Zentralbankgeld fluten.
Reaktionen auf EZB-Zinssenkung und Wertpapierkäufe
Die EZB senkt im Kampf gegen eine drohende Deflation ihren Leitzins überraschend auf das neue Rekordtief von 0,05 Prozent. Der Schlüsselsatz für die Versorgung des Bankensystems mit Zentralbankgeld lag seit Juni bei 0,15 Prozent. In der anschließenden Pressekonferenz kündigte Zentralbank-Chef Mario Draghi zudem an, dass die EZB sogenannte Kreditverbriefungen (ABS) sowie Pfandbriefe aufkaufen wird. Ökonomen und Händler sagten dazu in ersten Reaktionen:
"Die EZB hatte ihr Pulver schon viel zu früh verschossen und die Zinsen zu weit gesenkt. Jetzt ist sie in der Liquiditätsfalle. Sie kann an dieser Stelle kaum noch etwas tun. Bedauerlicherweise deutet sich auch der Kauf von Anleihen durch die EZB an. Damit würde sie das Investitionsrisiko der Anleger übernehmen, wozu sie nicht befugt ist, weil es sich dabei um eine fiskalische und keine geldpolitische Maßnahme handelt. Eine solche Politik ginge zulasten der Steuerzahler Europas, die für die Verluste der EZB aufkommen müssten."
"Die Notenbanker argumentieren mit den zuletzt schwachen Konjunkturdaten und der geringen Inflation. Auch die gesunkenen mittelfristigen Inflationserwartungen wurden thematisiert. In diesem Zusammenhang wurden auch die Projektionen für Wachstum und Inflation in diesem Jahr nach unten angepasst. Insofern bleibt die Tür für weitergehende Lockerungsschritte weit geöffnet."
"EZB-Chef Mario Draghi hat geliefert, warum auch immer. Für uns ist das nicht gerade eine glückliche Maßnahme. Alle Banken und Vermögensverwalter sind jetzt in noch größerer Not, ihre Liquidität irgendwo zu parken, ohne bestraft zu werden. Auch die Sparer dürften sich verraten fühlen und werden immer mehr ins Risiko gezwungen."
"Die ökonomischen Wirkungen der heutigen Zinssenkung sind vernachlässigbar. Die EZB hat sich im Vorfeld der Zinsentscheidung unnötig unter Zugzwang gesetzt. Die Gefahr, dass der Euro-Raum in eine gefährliche Deflationsspirale rutscht, ist nach wie vor gering. Auf der anderen Seite wächst mit den Aktivitäten der EZB die Gefahr, dass die in mehreren Euro-Ländern dringend erforderlichen Wirtschaftsreformen weiter verschleppt werden."
"Das ist überraschend. Eine Zinssenkung hatte niemand so richtig auf der Agenda - zumal sie konjunkturell nichts bringt und verpuffen wird. Die Deflationsgefahr lässt sich damit nicht vertreiben. Dazu bedarf es eher eines Anleihen-Kaufprogramms. Die EZB signalisiert mit ihrer Maßnahme aber, dass sie sehr weit zu gehen bereit ist. Das ist eher ein symbolischer Schritt. Die realwirtschaftlichen Folgen sind bescheiden."
"Beginnt jetzt auch EZB-Chef Mario Draghi damit, Geld aus dem Hubschrauber abzuwerfen? Wenn Draghi um 14.30 Uhr mit der Pressekonferenz beginnt, wissen wir mehr. Dann wird sich zeigen, ob die Zinssenkung nur das Vorspiel für weiteres geldpolitisches Feuerwerk sein wird oder er damit den bequemsten Weg wählte, um unkonventionelle Maßnahmen in großem Stil ohne Gesichtsverlust abzuwenden."
"Das war schon eine heftige Überraschung, mit einer Zinssenkung hat kaum einer gerechnet. Bei der Senkung der Zinsen handelt es sich zwar nur noch um Nuancen, aber das ist ein wichtiges Signal an die Kapitalmärkte, dass die EZB bereit ist, alles zu tun, was nötig ist."
Zinsen gesenkt
Bereits im Juni hatten die Notenbanker die Zinsen gesenkt und den Geschäftsbanken langfristige Geldleihgeschäfte zu Minizinsen in Aussicht gestellt. Doch die wegbrechende Konjunktur, die schwächelnde Kreditvergabe sowie die sinkenden Teuerungsraten haben die Notenbanker in Alarmstimmung versetzt. Sie fürchten, die Euro-Zone könnte in eine Deflation stürzen, die die reale Schuldenlast der Staaten in ungeahnte Höhen katapultiert.
Dem wollen sie durch das erneute Öffnen der Geldschleusen entgegenwirken. Das Ziel: ein schwacher Euro, der die Importe verteuert und Inflation importiert. An den Märkten kam die Botschaft an. Kaum hatte Draghi die geplanten Geldspritzen verkündet, knickte der Euro gegenüber dem Dollar um drei Cent auf 1,29 ein. In den nächsten Monaten dürfte sich die Talfahrt der Gemeinschaftswährung fortsetzen.
Weniger Anleihen kaufen
Dazu trägt auch bei, dass die US-Notenbank sich anschickt, ihre Geldpolitik zu straffen. Auf ihrem Treffen in dieser Woche dürften die US-Währungshüter beschließen, weniger Anleihen als bisher zu kaufen und somit weniger Geld zu drucken. Mitte nächsten Jahres könnte nach Ansicht von Beobachtern die erste Leitzinserhöhung folgen. Damit driften die Zinsen zwischen der Alten und der Neuen Welt immer weiter auseinander. Geldanlagen in der Euro-Zone lohnen sich kaum noch. Die Ökonomen der US-Bank Goldman Sachs erwarten daher, dass sich der Euro in den nächsten zwölf Monaten auf 1,20 Dollar verbilligt. Ende 2017 werde er die Parität zum Dollar erreichen.
Deutschlands Exporteure mag das freuen, spült der schwache Euro ihnen doch zunächst zusätzliche Gewinne in die Kassen. Doch langfristig hat der Cocktail aus Niedrigzinsen und weicher Währung toxische Wirkungen auf die Wirtschaft. Er setzt Fehlinvestitionen in Gang, entwertet die Ersparnisse, mindert den Reformdruck und lähmt die Kostenkontrolle in den Unternehmen. Wachstum und Wohlstand sind in Gefahr.
2014 – ein heikles Jahr für die EZB
In gebührendem Abstand zu den Bankentürmen im Westend entsteht in Frankfurt das neue Hauptquartier der EZB. Wann genau die Notenbanker dort einziehen werden, ist noch nicht klar - geplant ist aber 2014. Die EZB bleibt aber auch im Frankfurter Euro-Tower. Hier werden die Bankenaufseher untergebracht. Geldpolitiker und Aufseher sollen also nach den Umzügen nicht unter einem Dach arbeiten - Interessenskonflikte sollen so auf ein Minimum reduziert werden.
Sabine Lautenschläger ist anstelle von Jörg Asmussen ins EZB-Direktorium eingezogen. Ebenfalls neu ist Lettlands Zentralbankchef Ilmars Rimsevics. Lettland ist das 18. Land, das den Euro eingeführt hat.
Lautenschläger, Rimsevics und die anderen Notenbanker müssen sich an eine neue Offenheit der EZB gewöhnen. Die Zentralbank könnte schon bald wie etwa die Federal Reserve in den USA Protokolle oder zumindest schriftliche Zusammenfassungen der Sitzungen des EZB-Rats publik machen.
Draghi will dem EZB-Rat dazu schon bald einen konkreten Vorschlag machen. Umstritten ist, wie genau sich die Öffentlichkeit künftig ein Bild vom Abstimmungsverhalten der einzelnen Notenbanker machen kann.
Die EZB geht mit einem rekordniedrigen Leitzins ins Jahr 2014: Seit November können sich die Geschäftsbanken bei ihr für 0,25 Prozent Zinsen refinanzieren. Zudem hat der EZB-Rat beschlossen, dass die Institute noch bis mindestens Mitte des übernächsten Jahres so viel Liquidität bekommen, wie sie bei der EZB abrufen - ohne Obergrenze. Damit ist das Finanzsystem zwar geschützt gegen Liquiditätsengpässe, doch stockt der Kreditfluss in den besonders krisengeplagten Ländern Südeuropas.
Zudem ist die Inflation in der Eurozone aus Sicht der Notenbanker zu niedrig. Die Zentralbanker betonen seit der letzten Zinssenkung, dass sie noch zahlreiche Pfeile im Köcher haben. Dazu gehören unter anderem weitere milliardenschwere Geldspritzen, um die Banken flüssig zu halten, sowie ein Strafzins für Banken, die Gelder lieber bei der EZB parken, als sie an Unternehmen und Haushalte als Kredit weiterzureichen.
Wenn die EZB wie geplant im November 2014 die Oberaufsicht über die Banken der Währungsunion übernimmt, hat sie zumindest die 128 größten Institute bereits auf Herz und Nieren geprüft. Denn in den nächsten Monaten steht der größte Gesundheitscheck der Branche auf dem Programm, den es je gegeben hat.
Ziel der EZB ist es, die Banken möglichst besenrein, also ohne schlummernde Altlasten in den Bilanzen, zu übernehmen.
Stagnierende Wirtschaftsleistung in der EU
Noch vor wenigen Monaten hatte niemand damit gerechnet, dass die Euro-Hüter die Geldschleusen so rasch so weit öffnen würden. Denn die Konjunktur in der Euro-Zone schien endlich Tritt zu fassen. Dann aber gingen die Stimmungsindikatoren plötzlich auf Talfahrt, später folgten die harten Daten. Im zweiten Quartal stagnierte die Wirtschaftsleistung in der Währungsunion, in Deutschland ging sie sogar zurück. Das hat mehrere Ursachen:
Die Ukraine-Krise hat die Unsicherheit für Unternehmen und Bürger erhöht. Die deutschen Exporte nach Russland sind im zweiten Quartal um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebrochen. Die Investitionslaune der Firmen ist dahin. Verschärft sich der Konflikt in der Ukraine, könnte die ohnehin fragile Konjunktur in der Euro-Zone endgültig abschmieren. Vor allem, wenn Russland im Zuge der sich hochschaukelnden Sanktionsspirale den westlichen Fluggesellschaften die Überflugerlaubnis über den russischen Luftraum entzieht.