Geopolitik Europa kann nicht nur Markt, sondern auch Macht

Beim WirtschaftsWoche-Weltmarktführergipfel thematisierte Jean Asselborn die Herausforderungen im Umgang mit Russland. Quelle: dpa

Wir leben in unsicheren Zeiten. Umso wichtiger ist, dass gerade Europa ein verlässlicher Stabilitätsanker in der Welt bleibt – politisch, aber vor allem auch wirtschaftlich. Ein Gastbeitrag von Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn.

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Jean Asselborn ist seit 2004 luxemburgischer Außenminister und damit einer der dienstältesten Topdiplomaten der Welt. Dieser Gastbeitrag basiert auf einer Rede, die er anlässlich des WirtschaftsWoche-Weltmarktführergipfels am 2. Februar 2022 in Schwäbisch-Hall gehalten hat. Sie wurde für die Veröffentlichung leicht gekürzt und angepasst. (Hier können Sie die Rede im Video sehen.)

Die Lage in der Ukraine ist besorgniserregend, insbesondere angesichts der Drohkulisse, die Russland an der Grenze zur Ukraine und in Belarus aufgebaut hat. Aber ich glaube weiterhin, dass Vernunft und Diplomatie die Oberhand haben werden.

Die EU, genau wie die Nato, haben als erstes Ziel, Russland zu überzeugen, der Diplomatie eine Chance zu geben, statt mir militärischen Drohgebärden zu operieren. Die „Sorgen“ Russlands in Sachen Sicherheitsarchitektur sollten mit den Werkzeugen des internationalen Rechts behandelt werden – im Rahmen einer kultivierten Diplomatie und in einem Prozess, in dem beide Seiten sich einbringen und die Geschichte nicht neugeschrieben werden kann.

Was meine ich damit? Im 21. Jahrhundert, anders als im 20., kann es keine Einflusszonen mehr geben, die im Gegensatz zum Prinzip der Schlussakte von Helsinki von 1975 stehen. Das heißt: Jedes Landes ist frei, seine Außenpolitik so zu orientieren, wie es ihm gefällt. Das heißt nicht, dass es keinen Spielraum gibt, um Abrüstung zu fördern und Vertrauen neu aufzubauen.

In einem Land wie Deutschland, das 50 Prozent seines Erdgases aus Russland bezieht, braucht man wohl nicht allzu viele Worte zu verlieren, um den Ernst der Auswirkungen eines militärischen Übergriffs Russlands auf die Ukraine zu verstehen. Zu den Werkzeugen der Diplomatie gehören Sanktionen, um ein Umdenken herbeizuführen. Ich hoffe, dass wir das in Vorbereitung befindliche Sanktionspaket nicht anwenden müssen. Die EU wird sich weiterhin für die territoriale Integrität der Ukraine einsetzen.

Ich weigere mich, einer vermeintlich unaufhaltsamen Kriegslogik zu folgen, also zu glauben, mit militärischen Drohkulissen einen Krieg zu verhindern. Russland kennt die möglichen Konsequenzen auf wirtschaftlicher und politischer Ebene. Ein militärischer Angriff auf die Ukraine wird diese heutigen Sicherheitsbedenken in keiner Weise lösen. Es wird eine Dynamik der Eskalation und des wirtschaftlichen Zusammenbruchs entstehen.

Um es klar zu sagen: Das kann nicht das Ziel sein. Hoffen wir, dass das Irrationale nicht eintrifft.

Wandel durch Handel? Leider nein

1995, fünfzig Jahre nach der Gründung der großen multilateralen Organisationen, erblickte die Welthandelsorganisation, die neue Hüterin des Welthandels, das Licht der Welt. Nach Ende des Kalten Krieges konnte der Westen jetzt, neben der Befestigung der Demokratien, sich zur Aufgabe machen, die Welt von Handelshemmnissen zu befreien und seinen Unternehmen freien Zugang zu allen Märkten zu verschaffen. Diese beiden Ziele fanden ihre kombinierte Umsetzung in einer Politik, die der bekannte Ausdruck „Wandel durch Handel" perfekt zusammenfasst – ein Ausdruck, der unsere Hoffnung widerspiegelte, dass die wirtschaftliche Öffnung autoritärer Länder demokratische Übergänge erleichtern würde.

Heute steht Wandel durch Handel eher dafür, dass wir zu lange die Augen zugedrückt haben, besonders im Hinblick auf Menschrechtsverletzungen. Im Nachhinein sehen wir, dass wir zu optimistisch waren – manche werden sagen: naiv – und uns zu sehr auf unsere eigenen europäischen Erfahrungen mit der Schaffung einer europäischen Freihandelszone und Wertegemeinschaft verlassen haben.

Zweifellos haben wir auch den Widerstand gegen Veränderungen unterschätzt, da demokratische Übergänge als systemische Bedrohung für die herrschenden Kräfte wahrgenommen werden. Dies hat zu grundlegenden Verschiebungen im internationalen Handel geführt, welche mit zum Teil erheblichen Instabilitäten in den internationalen Beziehungen einhergehen.

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