Geplatztes EU-Rahmenabkommen mit der Schweiz „Wir sind ein Land, das seine Nationalstaatlichkeit hochhält“

Nach sieben Jahren hat die Schweiz die Verhandlungen über ein von Brüssel gewünschtes Rahmenabkommen zu den bilateralen Beziehungen beendet. Quelle: dpa

Gerade hat die Schweiz die Verhandlungen mit der EU über einen Rahmenvertrag über die bilateralen Beziehungen platzen lassen – nach Gesprächen, die sieben Jahre gedauert haben. In Brüssel ist man brüskiert. Das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU könnte in den kommenden Jahren spürbar leiden, vor allem dann, wenn die derzeit geltenden bilateralen Abkommen nach und nach auslaufen. Nähert sich die Schweiz jetzt stärker an Großbritannien an? Kommt es zu einer Verbrüderung im Brexit? Christoph Mäder, Chef des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse, spricht im Interview darüber, was von dieser Annäherung zu erwarten ist.

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Christoph Mäder ist Chef der Economiesuisse, dem größte Wirtschaftsdachverband in der Schweiz.

WirtschaftsWoche: Herr Mäder, was genau hat aus Ihrer Sicht dazu geführt, dass die Schweiz vor wenigen Tagen die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU für beendet erklärt hat?
Christoph Mäder: Unsere Landesregierung hat eine Entscheidung von sehr großer Tragweite getroffen, politisch wie wirtschaftlich. Wir bedauern, dass die Verhandlungen zu keiner für beide Seiten akzeptablen Lösung geführt haben. Auf beiden Seiten lief vieles nicht optimal. Die EU bestand auf Zugeständnisse, die für die Schweiz nicht einfach sind. Zum Beispiel die dynamische Rechtsübernahme oder die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes. In den Diskussionen zwischen Bern und Brüssel haben sich Differenzen aufgetan, die aus Sicht der Schweizer Landesregierung offenbar unüberbrückbar waren.

War nicht die Freizügigkeit einer der größten Stolpersteine?
Das Unionsbürgerrecht war für uns als Nicht-Mitglied eine große Hürde. Arbeitnehmende aus der EU, die in der Schweiz arbeiten und hier lange Zeit gelebt haben, sollen selbstverständlich auch Zugang zu den Sozialwerken haben, wie das für schweizerische Arbeitnehmende auch der Fall ist. Das Problem war aber die Sorge vor einer möglichen Zuwanderung von EU-Bürgern in unsere Sozialsysteme. Die Philosophie des EU-Bürgerrechts wurde bei uns mehrheitlich kritisch beurteilt. Wir sind ein Land, das seine Nationalstaatlichkeit hochhält. Und daraus ergeben sich zwangsläufig irgendwann Konflikte mit der EU, die ja eine Philosophie einer multinationalen Gemeinschaft verfolgt. Man hat versucht, einen Weg zu finden, wie die Schweiz weiter am Binnenmarkt teilnehmen kann, was für uns natürlich ein Riesenvorteil ist. Aber andererseits wollte man die Nationalstaatlichkeit bewahren. Hier einen Kompromiss zu finden, hat offenbar nicht geklappt.

Wie geht es dann weiter zwischen der Schweiz und der EU?
Es dürfte nun eine gewisse Zeit dauern, bis wieder konstruktiv miteinander verhandelt wird. Aber die EU bleibt auf absehbare Zeit unser wichtigster Handelspartner. Und wir werden alles daran setzen müssen, dass wir Wege finden, um auch in Zukunft ein stabiles, gutes und wirtschaftlich beiderseits positives Verhältnis haben können. Es ist ja auch im beiderseitigen Interesse, hier wieder Ruhe einkehren zu lassen. Es wird hoffentlich alles Notwendige unternommen, sowohl innen- wie außenpolitisch, um den Schaden zu minimieren. Dafür werden wir uns einsetzen.

Christoph Mäder ist Chef der Economiesuisse, dem größte Wirtschafts-Dachverband in der Schweiz. Quelle: PR

Wie steht denn die Wirtschaft in der Schweiz zu diesem abrupten Abbruch der Gespräche mit der EU?
Die Schweizer Wirtschaft ist unterschiedlich stark betroffen. Die Binnenwirtschaft betreffen die Entwicklungen eher indirekt. Stark exportorientierte Unternehmen – und auch die Zulieferer der Exportindustrie – sind aber natürlich besorgt und wünschen sich eine Fortsetzung des bilateralen Verhältnisses mit der EU. Es wird aber nicht einen sofortigen Abbruch geben, sondern eine stetige Erosion der bilateralen Verträge. Und hier gilt es Wege zu finden, um diesen Effekt aufzufangen.

Was machen die exportorientierten Unternehmen, wenn diese Erosion zu Einschränkungen beim Handel führt? Teilweise ist das ja schon der Fall.
Die europäischen Handelspartner reagieren sehr sensibel auf Unsicherheit, wie das jedes Unternehmen tut. Da muss die Schweiz schon sehr vorsichtig sein. Wir haben im Zusammenhang mit der Coronakrise gesehen, was Unterbrechungen in den Lieferketten bedeuten. Diese Verwerfungen sind nicht zu unterschätzen. Unsere Unternehmen werden sich in der einen oder anderen Form anpassen. Viele Schweizer Firmen haben Niederlassungen oder Partner in der EU und können über diese Strukturen die entsprechenden Anforderungen auch anders erfüllen. Der Verlierer wäre dabei möglicherweise der Arbeits- und Werkplatz Schweiz, nicht so sehr die Unternehmen. Wenn Investitionen anstehen, wird sich die Frage stellen, ob die in der Schweiz oder anderswo erfolgen. Das sehe ich eigentlich als das größere Thema an.

Kommt es jetzt zu einer noch stärkeren Annäherung der Schweiz an Großbritannien? Eine Verbrüderung im Brexit? Im Finanzbereich gibt es ja schon seit 2019 eine verstärkte Kooperation.
Sowohl für Großbritannien wie auch für die Schweiz wird die EU der wichtigste Handelspartner bleiben. Daran wird auch der Entscheid des Bundesrates nichts ändern. Aber Großbritannien ist die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt und ist auch ein sehr wichtiger Handelspartner für die Schweiz. 2020 hatten wir mit Großbritannien einen Güterhandel in Höhe von 13 Milliarden Franken. Bei den Dienstleistungen lag dieser Betrag sogar noch höher, bei 22 Milliarden Franken. Nach der EU und den USA ist Großbritannien in puncto Handel und Direktinvestitionen der wichtigste Partner der Schweiz. Daher bin ich sehr froh, dass sich beide Seiten sehr schnell darauf geeinigt haben, die Finanzbeziehungen nicht nur zu stabilisieren, sondern auf eine noch breitere Grundlage zu stellen.

Wie stehen denn die Schweiz und Großbritannien traditionell zueinander?
Großbritannien war als EU-Mitglied – im Sinne des wirtschaftspolitischen Verständnisses – immer unser bester Verbündeter. Es gibt Parallelen, die jetzt sicherlich vorteilhaft sind. Beispielsweise eine gewisse Skepsis gegenüber zu viel Zentralismus, und in einer stärkeren Skepsis gegenüber überbordender Regulierung. Beide Nationen sind sehr forschungs- und innovationsorientiert. Viele der besten Universitäten des Kontinents lagen in den Rankings der vergangenen Jahre oft entweder in Großbritannien oder in der Schweiz. Es gibt also gemeinsame Voraussetzungen wirtschaftspolitischer Art, die es sicherlich sehr lohnend machen, diese Beziehungen auszubauen. Beide Seiten sind dazu entschlossen. Und das finde ich ausgesprochen positiv.

Gibt es bei den Ursachen für die EU-kritische Haltung in beiden Ländern nicht auch Parallelen? In Großbritannien gab es schon immer eine rechtslastige Presse, die Stimmung gegen die EU gemacht hat. Und vor dem Brexit gab es finanzkräftige Akteure, darunter Hedgefonds-Manager und einige Unternehmer, die sich für den EU-Austritt eingesetzt und dafür Gelder zur Verfügung gestellt haben. Ist das in der Schweiz nicht ähnlich?
Es gibt schon Dinge, die deutlich anders sind. Bei den Medien in der Schweiz gab es einige, die gegen das Rahmenabkommen angeschrieben haben. Aber das waren nicht die dominierenden Medienhäuser. Das hat aus meiner Sicht daher keine Rolle gespielt. Es wird jetzt einige Leute geben, die sich einen gewichtigen Anteil am Scheitern selbst zusprechen werden. Ich wäre aber sehr vorsichtig mit solchen eindimensionalen Begründungen. Es gab eine Vielzahl von Gründen, etwa die unglückliche Gestaltung des Entscheidungsprozesses, die sich ja über Jahre erstreckt hat. Und nicht zuletzt gab es auch ein gewisses Führungsvakuum auf Seiten der Landesregierung.

In den vergangenen Jahren hat die Schweiz viel unternommen, um die Transparenz ihrer Banken zu erhöhen. In Großbritannien gibt es hingegen anhaltende Probleme mit zweifelhaften Geldströmen, gerade im Zusammenhang mit den britischen Überseegebieten. Droht die Schweiz nicht, durch eine stärkere Anbindung an den britischen Finanzsektor, in die Schmuddelecke gedrängt zu werden?
Ich glaube nicht, dass es sich die Schweiz ökonomisch leisten kann, sich in einer solchen Art und Weise am Finanzplatz Großbritannien zu orientieren. Die Schweiz könnte sich das allein schon deswegen nicht leisten, weil die Schweizer Banken primär Vermögensverwalter und Vermögensberater für alle Teile der Welt sind. Die großen, sich stark entwickelnden Kundensegmente liegen in Asien und im Mittleren Osten. Eine Annäherung an den Finanzplatz Großbritannien kann nicht das Alleinstellungsmerkmal sein für den Schweizer Finanzplatz. Er muss sich global orientieren. Und die Schweiz hat ja – zum Teil aufgrund schmerzhafter Erfahrungen in der Vergangenheit – erkannt, dass sie modernen Standards von Compliance, Transparenz und Nachhaltigkeit entsprechen muss, wenn sie ein prosperierender und aktiver globaler Finanzplatz sein möchte.

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In welchen Bereichen sehen Sie Potenzial für einen Ausbau der Beziehungen zu Großbritannien?
Das sehe ich beispielsweise im Bereich der digitalen Wirtschaft und der Cybersicherheit, bei den technischen Handelshemmnissen, bei der Anerkennung beruflicher Qualifikationen, in der Forschung, und in der Fintech. Das sind Gebiete, in denen beide Länder bereits große Kompetenzen haben und wo sie stark voneinander profitieren können. Und auch bei den multinationalen Plattformen wie der OECD, der WTO und beim Internationalen Währungsfonds ergeben sich durch die Loslösung Großbritanniens aus dem Verbund der EU-Staaten neue Möglichkeiten. Die Schweiz als Kleinstaat braucht immer gute Allianzen in diesen Plattformen. Da bietet sich Großbritannien an. Großbritannien ist traditionell ein sehr guter Partner, und das wird auch umgekehrt so empfunden. Da ist Potentzial vorhanden. Das müssen wir nutzen.

Mehr zum Thema: Nach dem Stopp der Handelsgespräche zwischen Bern und Brüssel fürchtet die Wirtschaft Unsicherheit. Der Chef der deutsch-schweizerischen Handelskammer warnt vor brüchigen Lieferketten.

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