
WirtschaftsWoche: Herr Cromme, als langjähriger Top-Manager in Frankreich sind Sie ein Mann, der über den teutonischen Suppenschüsselrand ein paar Zentimeter hinwegguckt...
Gerhard Cromme: ...danke für die Blumen.
Bis 1986 standen Sie in den Diensten des französischen Mischkonzerns Saint-Gobain, um dann dem Ruf des Hügels nach Essen zu Krupp zu folgen. Haben Sie sich in Frankreich nicht ganz wohlgefühlt?
Das Gegenteil ist richtig. Ich habe dort sehr viele Freunde gewonnen. Die Aufgabe bei Krupp war eine neue Herausforderung. Meinen Verbindungen zu Frankreich hat das über die Jahre nicht geschadet, ganz im Gegenteil.
Sie sind Mitorganisator des deutsch-französischen Unternehmertreffens in Evian, das vom ehemaligen Daimler-Chef Edzard Reuter mitbegründet und von Ex-Außenminister Joschka Fischer mehrmals als Redner und Diskussionsteilnehmer besucht wurde.
Dort treffen sich einmal im Jahr etwa 50 deutsche und französische Unternehmensführer mit Politikern, um über die deutsch-französische Zusammenarbeit und europapolitische Themen zu sprechen.





Die Zusammenarbeit auf politischer Ebene muss sich jetzt neu beweisen. Der Sozialist François Hollande ist neuer französischer Präsident. Kanzlerin Angela Merkel hat auf das falsche Pferd gesetzt, als sie den Wahlkampf von Nicolas Sarkozy unterstützte. Wird das ein Problem?
Ich glaube nicht. Eigentlich war es doch logisch, dass die Kanzlerin einem Parteifreund helfen wollte, wenn man Europapolitik als europäische Innenpolitik begreift. Kanzlerin Merkel und Präsident François Hollande werden von nun an ganz schnell ein funktionierendes europäisches Duo werden, davon gehe ich aus.
Wir sind gespannt, wie Hollande den Sprung von der sozialistischen Rhetorik zu einer neoliberalen Politik hinbekommt, ohne die er den französischen Staatshaushalt nicht sanieren und den Euro zusammen mit der Bundeskanzlerin nicht retten kann.
Hollande ist Pragmatiker. Dass er seinen Wahlkampf so geführt hat, ist ihm nicht vorzuwerfen. Letztlich wird doch alles nicht so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Die Chance, dass er den französischen Staatshaushalt für Wahlgeschenke groß aufblähen kann, sehe ich nicht. Ich glaube eher, Hollande macht zunächst eine Bestandsaufnahme, einen Kassensturz. Danach wird er dem französischen Volk erklären, dass die finanzielle Lage schwierig ist und dass man eben nicht alles umsetzen kann oder mehr Zeit braucht.
Es werde „kein Kind der Republik zurückgelassen“, hatte Hollande im Wahlkampf versprochen. Ist das nicht ein pathetisches wie klares Versprechen, mehr Geld auszugeben?
Nicht unbedingt. Schon Präsident Jacques Chirac hatte vor der „fracture sociale“ gewarnt, vor dem Auseinanderbrechen der Gesellschaft. Das Anliegen des sozialen Friedens ist absolut richtig. Allerdings wird der Druck der Märkte dafür sorgen, dass die Staatsfinanzen unter Kontrolle bleiben. Natürlich wird der neu gewählte Präsident seinen Wählern entgegenkommen – da und dort bei der Steuerpolitik, bei einer Bildungsreform oder bei der Infrastrukturpolitik. Aber dann wird er sehr schnell von den fiskalischen Realitäten eingeholt werden.
Sarkozy hat den Franzosen immer wieder Deutschland als Vorbild hingestellt. Wird Hollande von Merkel lernen?
Die Frage ist mir in letzter Zeit oft gestellt worden. Hollande braucht keine Nachhilfelehrerin, wohl aber eine politische Partnerin, um die Zukunft des Euro zu sichern. Jeder kann von den Stärken des anderen lernen.
Was heißt das?
Dass ein Deutschland in so holzschnittartiger Form, wie es immer wieder in Paris vorgebracht wird, gar nicht existiert. Das deutsche Modell ist nicht auf Frankreich übertragbar. Aber es ist auch kein Zufall, dass Deutschland noch vor wenigen Jahren als „l’homme malade“, als kranker Mann Europas, bezeichnet wurde und heute gerade in Frankreich vom „modèle allemand“ gesprochen wird. Auch in Frankreich sind grundlegende Strukturreformen nötig. Hier kann man einiges von den skandinavischen Ländern lernen.
Achse Berlin-Paris

Klingt diplomatisch und rücksichtsvoll, nehmen die Franzosen Ihnen das ab?
Man muss auch nicht immer Nabelschau betreiben...
...aber deswegen die Vorzüge der deutschen Wirtschaft auch nicht ganz verschweigen.
Zur Wettbewerbsfähigkeit gehören viele Dinge. Für unsere französischen Partner ist besonders das Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Deutschland immer wieder ein Grund zum Staunen. Die deutsche Mitbestimmung hat sich über viele Jahre entwickelt und mehr als bewährt. Man kann das deutsche Mitbestimmungsmodell aber nicht eins zu eins auf Frankreich übertragen. Erstens sind die französischen Gewerkschaften im Vergleich zu den deutschen eher schwach, und zweitens haben wir in Deutschland auch 30 Jahre gebraucht, um zu lernen, mit der Mitbestimmung positiv umzugehen und sie nicht als Gängelung des jeweils anderen misszuverstehen. In Frankreich wird das Verhältnis von Arbeit und Kapital manchmal noch zu sehr als unversöhnlicher Widerspruch gesehen.
Sie sind aufs Schwerste von den Gewerkschaften angegriffen worden, als Sie als Krupp-Chef das Stahlwerk Rheinhausen 1988 schlossen, danach feindlich den damaligen Konkurrenten Hoesch übernommen und schließlich mit dem Marktführer Thyssen zur ThyssenKrupp AG fusioniert haben. Liefe das heute anders?
Damals gab es Blessuren auf beiden Seiten. Aber die sind verheilt. Wir haben alle dazugelernt.
Wieso sollte das nicht auch in Frankreich funktionieren?
Ich würde dringend davon abraten, das heute bei uns praktizierte Mitbestimmungsmodell auf Frankreich zu übertragen. In Frankreich könnten mit diesem Grad der Kooperation weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer umgehen. Das funktioniert nicht, und eine Vorbildfunktion Deutschlands wäre im Sinne eines Patentrezepts das Grundfalsche. Gleichwohl haben wir nach Jahrzehnten praktischen Umgangs mit den Instrumenten der Mitbestimmung einiges erreicht, die Kurzarbeit, die Lohnzurückhaltung besonders in den schweren Jahren 2000 bis 2005.





Meinen Sie, dass sich Merkel und Hollande irgendwann zusammenraufen, jenseits von Parteigrenzen?
Daran habe ich überhaupt keinen Zweifel. Es gibt keine Alternative zur Achse Berlin–Paris. Das war die Botschaft des Antrittsbesuches des französischen Präsidenten vergangene Woche in Berlin. Kanzlerin Merkel ist eine ausgesprochene Pragmatikerin. Und so, wie ich Präsident Hollande kennengelernt habe, geht er nicht ideologisch und kurzfristig orientiert, sondern unaufgeregt und vorausschauend an die Dinge heran.
Woher haben Sie diesen sehr persönlichen Eindruck?
Vor wenigen Wochen habe ich mich mit Präsident Hollande im kleinen Kreis zum Abendessen getroffen. Er ist ein sehr sachlicher Mensch, der ganz genau weiß, dass er im Grunde genommen nicht sehr viel Zeit und wahrscheinlich auch keine großen Spielräume für politische Entscheidungen hat, weil die Märkte Druck auf seine Wirtschaft und auf den Euro ausüben. Bei unserem Treffen erschien er mir als überzeugter Europäer. Er will 2017 die Maastricht-Kriterien erfüllen. Und er pochte darauf, dass wir alle zusammen alles tun müssen, um den Euro zu erhalten. Das sind die Grundvoraussetzungen einer guten Zusammenarbeit zwischen Merkel und Hollande – und letztlich auch für eine gemeinsam ausgerichtete Wirtschafts- und Stabilitätspolitik.
Hollande ist der Mitte-links-Fraktion bei den Sozialisten zuzuordnen und mit François Mitterrand, der deutlich weiter links stand, nicht zu vergleichen. Mit wem würden Sie Hollande vergleichen?
Eher mit dem Sozialisten Jacques Delors, seinem politischen Ziehvater, der Finanzminister unter Mitterrand war und danach Präsident der EU-Kommission. Man kann die französischen Sozialisten nicht mit der deutschen Sozialdemokratie vergleichen. Bei den französischen Sozialisten gibt es ganz verschiedene Strömungen, Pragmatiker, Marxisten, Anarchisten, Leute, die ein ganz anderes System wollen. Hollande ist ein Politiker, der eher einem rechten deutschen Sozialdemokraten entspricht. Im Wahlkampf musste er den sozialistischen radikalen Kräften seiner Partei einige Zugeständnisse machen, und er wird auch einige Dinge umsetzen müssen, damit er zumindest einen Teil seiner Wahlversprechen hält. Um die französische Wirtschaft zu reformieren, um die entsprechenden Gesetze durchzubringen, braucht er seine sozialistische Partei.
Wandel zum Pragmatismus

Glauben Sie, der Wandel zum Pragmatismus bei Hollande geht schnell?
Unter unserem SPD-Kanzler Gerhard Schröder gab es nach dem Wahlsieg von Rot-Grün 1998 zunächst den Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine, ebenfalls von der SPD. Als Schröder nach längerer Zeit die Machtfrage stellte, gab Lafontaine auf und verließ die Regierung und sogar seine Partei. Die Regierung Schröder setzte dann von 2003 an die Agenda 2010 um, die Reform der Arbeitslosenversicherung, und schuf damit die Voraussetzung, die deutsche Wirtschaft wieder wettbewerbsfähig zu machen. Hollande kann nicht so lange warten wie seinerzeit Schröder.
Wie viel Zeit hat der französische Präsident Ihrer Ansicht nach?
Spätestens im Herbst kommt die Stunde der Wahrheit. Bis dahin muss Frankreich weitere 60 Milliarden Euro Staatsschulden umfinanzieren. Dann müssen die Märkte von der Konsolidierungspolitik Frankreichs überzeugt sein. Hollande muss zusammen mit Merkel und gemeinsam mit der Europäischen Zentralbank alles tun, um den Euro zu verteidigen. Es gibt geradezu einen Zwang zur Einigung – und zwar unter großem Zeitdruck.
Werden die Franzosen ihre Schulden nicht einfach nur mit mehr Schulden bekämpfen?
Richtig ist, dass es in Frankreich eine starke Tradition gibt, das Wachstum durch staatliche Ausgabenprogramme zu stärken. Und zwar durch Ankurbelung der Binnennachfrage und durch staatlich gelenkte Investitionsprogramme. Die Bilanz dieses Ansatzes ist gemischt. Der Glaube an den Staat ist in Frankreich jedenfalls größer, bei uns aus historischen Gründen geringer.
Wird es Frankreich schaffen, nicht ein zweites Spanien oder ein zweites Portugal zu werden, von Griechenland ganz zu schweigen?
Die Ausgangssituation ist doch völlig anders. Frankreich ist die zweitgrößte Volkswirtschaft in der Euro-Zone. Die industrielle Basis ist vorhanden, auch wenn in den vergangenen zehn Jahren viel Industrie verloren gegangen ist. Letztlich kommt es darauf an, dass Deutschland und Frankreich eng zusammenarbeiten. Die Vergangenheit hat gezeigt, wenn beide Länder an einem Strang ziehen, ist das für Europa schon ein großer Schritt. Europa ist in den vergangenen 50 Jahren aus Krisen doch immer gestärkt hervorgegangen.





Könnte es nicht zumindest auf dem Gebiet der Energiewirtschaft eine enge Partnerschaft zwischen Deutschen und Franzosen geben? Wir standen hier nach der Energiewende an kalten Tagen in manchen Regionen kurz vor dem Blackout.
Bei der künftigen Energiepolitik muss mehr der globale Blickwinkel beachtet werden, und auch da müssen sich Merkel und Hollande intensiv beraten. Wir sehen, dass die deutschen Energiepreise zu den höchsten in den Industrieländern zählen, die Netze nicht ausreichen und die Versorgung seit der Energiewende nicht immer sicher ist. Die Energiewende in Deutschland hat Konstruktionsfehler. Anstatt aufeinander abgestimmte Zielkorridore für Sauberkeit, Sicherheit und Bezahlbarkeit zu definieren und dies einem Monitoring zu unterwerfen, liegt der Fokus bisher alleine auf Sauberkeit. Das belastet die Industrie im globalen Wettbewerb erheblich. Außerdem ist Energiepolitik noch rein national ausgelegt.
Was versprechen Sie sich dabei von Frankreich?
Die Franzosen können uns mit ihrer starken Energiewirtschaft helfen. Präsident Hollande wird doch Kanzlerin Merkel vielleicht einmal fragen, wieso in Deutschland die Energiewende und der Ausstieg aus der Kernenergie an einem Wochenende und ohne die Konsultation mit dem europäischen Partner Frankreich durchgepeitscht wurde. Das kann ein ganz wichtiger Diskussionspunkt zwischen beiden werden.
Europa
Soll Frankreich mit seinen 57 Atomkraftwerken nun etwa ein industriepolitisches Vorbild für Deutschland sein?
Ganz sicher nicht. Aber wenn die Kanzlerin dem Präsidenten etwas über deutsche Stabilitätsgrundsätze berichten kann, dann wird er ihr als Gegenbeispiel vielleicht sagen, dass man eine Industrienation von Rang nicht alleine mit erneuerbaren Energien betreiben kann, und schon gar nicht von heute auf morgen. So funktioniert eben eine gute Partnerschaft.