Gipfeltreffen EU will neuen Anlauf beim Brexit – diese Szenarien sind möglich

Theresa May, Premierministerin von Großbritannien Quelle: dpa

Die Erwartungen an den EU-Gipfel waren hoch: Für den Brexit sollte zumindest eine Grundsatzeinigung stehen. Doch wieder wird eine Frist gerissen. Und jetzt?

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Vor vier Wochen noch machte Donald Tusk eine strenge Ansage. „Die Stunde der Wahrheit in den Brexit-Verhandlungen wird der EU-Gipfel im Oktober“, sagte der EU-Ratschef Mitte September nach einem mit Spannungen und Missverständnissen beladenen Treffen in Salzburg. Jetzt ist die Stunde da. Aber die Wahrheit ist: Vor dem EU-Gipfel am Mittwoch fehlt der geforderte „maximale Fortschritt“. Der Verhandlungsstand gebe keinen Anlass zu Optimismus, resümierte Tusk am Dienstag halb resigniert.

Nun soll ein Vorstoß der EU vielleicht doch noch den Weg zur Einigung bahnen: Laut einem Bericht der "Financial Times" zeigte sich Brexit-Unterhändler Michel Barnier am Mittwoch offen dafür, die Übergangsphase, in der sich für Bürger und Unternehmen praktisch nichts ändert, um ein Jahr zu verlängern. Bislang beharrte die EU darauf, dass diese Phase zum Ende des Jahres 2020 abgeschlossen ist. Im Gegenzug solle Großbritanniens Premierministerin Theresa May Zugeständnisse im Streit um die irische Grenze machen, schreibt die Finanzzeitung. Der britische Handelsminister Liam Fox brachte seinerseits ebenfalls eine längere Übergangszeit ins Spiel, wie die britischen Zeitung „The Times“ berichtete. Diese Zeit sei nötig, um Freihandelsabkommen aushandeln zu können, sagte er demnach.

Großbritannien will die EU am 29. März 2019 verlassen. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob und wie ein chaotischer Exit noch zu vermeiden ist. Eine verlängerte Übergangsphase böte die Chance, über das Stichdatum Ende Dezember 2020 hinaus noch einige Monate länger in der Übergangsphase bleiben. Seit mehr als einem Jahr feilen die Unterhändler der EU und Großbritanniens an einem Abkommen, das den Austritt regelt. Wie das alles ausgeht? Wagt heute kaum jemand zu sagen. Aber es gibt einige plausible Szenarien:

Die britische Premierministerin May gibt sich optimistisch, dass bald ein Brexit-Abkommen möglich ist. EU-Ratspräsident Tusk wiederum meint, ein Brexit ohne Abkommen sei „wahrscheinlicher denn je“.

Wenn man sich einigt

Ein einziger wirklicher Knackpunkt blockiert seit Monaten eine Einigung und könnte zur Schicksalsfrage werden: die irische Grenze. Das EU-Mitglied Irland will keinesfalls zurück zu den vor 20 Jahren abgebauten Schlagbäumen an der heute fast unsichtbaren Trennlinie zum britischen Nordirland, aus Angst vor neuer Gewalt in der ehemaligen Bürgerkriegsregion. Doch wie Zoll- und Warenkontrollen vermeiden an einer neuen EU-Außengrenze?
Lösungsvorschläge gibt es von beiden Seiten, nur sind sie bisher unvereinbar. Zuletzt hatte man große Hoffnungen auf eine akzeptable Formel, doch konnten sich die Unterhändler trotz tagelanger mühsamer Kleinstarbeit am Wochenende kurz vor dem Ziel doch nicht einigen. Trotzdem sprach May am Montag im britischen Parlament von Fortschritten auch in dieser Frage – was sich bei der EU anders anhört.

Kommt es wirklich zu einer tragfähigen Lösung, wäre der Weg wohl frei für das Best-Case-Szenario: Bei einem EU-Sondergipfel Mitte November werden der Austrittsvertrag und eine „politische Erklärung“ zu den künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien abgesegnet. Stimmen dann das Europaparlament und das britische Parlament zu, kommt nach dem 29. März die versprochene Übergangsphase, in der sich praktisch nichts ändert für Bürger und Unternehmen. In der Zeit könnte man eine enge Wirtschafts- und Sicherheitspartnerschaft aushandeln und fortan in guter Nachbarschaft leben.

Wenn fast alles gut geht, aber...

Der Idealfall ist deshalb so unwahrscheinlich, weil er die britische Innenpolitik ausspart. „Jeder Ausgang der Verhandlungen droht (...) eine politische Krise in Großbritannien auszulösen, wodurch die Gefahr eines ungeordneten Austritts weiter steigt“, schreibt Fachmann Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
May bekommt bei jedem Kompromissversuch kontra – nicht nur von harten Brexiteers in der eigenen konservativen Partei, sondern auch von der nordirischen Protestantenpartei DUP, die der Regierung im Parlament die Mehrheit sichert. Entzieht sie May die Unterstützung, müsste die Regierungschefin auf die Labour-Opposition hoffen, zumindest auf einige Abweichler.

Wenn es schieg geht – in Westminster oder Brüssel

Die Premierministerin hat deutlich gemacht, dass die Parlamentarier in Westminster nur die Wahl zwischen ihrem Deal haben oder keinem - vorausgesetzt, May bringt mit der EU einen zustande. Das heißt: Die Abgeordneten stimmen entweder zu oder nehmen die Verantwortung eines chaotischen Bruchs auf sich. May erhöht den Druck und lockt zugleich mit der Übergangsfrist, in der man alles noch im Sinne Großbritanniens regeln könnte.

Gerade noch sah es so aus, als fänden Brüssel und London zum Brexit-Kompromiss. Doch vor dem wichtigen EU-Gipfel am Mittwoch stehen die Zeichen wieder auf Sturm. Das beunruhigt auch die Bundeskanzlerin.

Eine äußerst riskante Strategie, wie auch Diplomaten in Brüssel analysieren. Scheitert sie, liefe erst einmal alles auf einen ungeregelten Brexit zu. Dann würde aus dem Brexit-Sondergipfel im November womöglich ein „Preparedness-Gipfel“, bei dem man hektisch Notfallpläne für den Tag X durchdekliniert.

Alles auf Anfang?

Man versucht es noch einmal

Allerdings sind es heute immer noch mehr als fünf Monate bis zum Brexit-Tag - Zeit für die weitere Suche nach Lösungen. Der Politikwissenschaftler Simon Usherwood von der Universität Surrey glaubt, dass noch bis Ende des Jahres Zeit dafür wäre.

Selbst wenn kein komplettes Austrittsabkommen mehr möglich wäre, könnte man versuchen, mit Einzelvereinbarungen einige dramatische Auswirkungen – wie den Zusammenbruch des Flugverkehrs – abzufedern. Zölle und Kontrollen an den Grenzen wären aber wohl unumgänglich. Auch Millionen von EU-Bürgern in Großbritannien und Briten in der EU würden in Ungewissheit über ihre Rechte und Ansprüche gestürzt.

Möglich wäre auch, die Austrittsverhandlungen offiziell zu verlängern. Allerdings ginge dies nur auf britischen Antrag mit Billigung des Parlaments und nur mit Zustimmung aller 27 anderen EU-Staaten. Politikwissenschaftler Usherwood bezweifelt, dass sich die EU auf eine Verlängerung einlässt, solange sich in Westminster keine klare Richtung abzeichnet. May will es ohnehin nicht.

Alles auf Anfang

Gibt es noch einen Weg zurück – den Exit vom Brexit? EU-Ratschef Tusk und andere haben immer wieder gesagt, die Tür bleibe offen. Und in Großbritannien gibt es seit Monaten anschwellende Rufe nach einem zweiten Referendum. Würde dieser Tage erneut über den britischen EU-Austritt abgestimmt, so käme es einer aktuellen Umfrage zufolge nicht zum Brexit. Eine am Mittwoch veröffentlichte repräsentative Eurobarometer-Umfrage im Auftrag des Europaparlaments zeigt: Jeder zweite Brite (51 Prozent) würde zurzeit für einen Verbleib in der Europäischen Union stimmen. 34 Prozent der Befragten würden für den Brexit stimmen, 11 Prozent zeigten sich unentschlossen.

Die oppositionelle Labour-Partei hält sich die Option offen. Auch die Schottische Nationalpartei und die Liberalen dürften mitziehen. Mithilfe einiger EU-freundlicher Konservativer könnte es dafür theoretisch eine Mehrheit geben. Aber was soll man die britischen Wähler fragen? Eine einfache Wiederholung des Referendums von 2016 gilt als ausgeschlossen.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%