Global Governance Wir brauchen einen neuen internationalen Gesellschaftsvertrag

Mission Possible: Aufschwung nach der Pandemie & Klimaschutz Quelle: dpa

Mission Possible: Die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie kann gelingen – und der Zusammenbruch des Klimas verhindert werden. Was es dazu braucht? Mehr Mut, mehr Geld – und mehr Staat!

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Mariana Mazzucato ist Professorin für Innovationsökonomie und Public Value am University College London sowie Gründungsdirektorin des UCL Institute for Innovation and Public Purpose. Sie ist die Verfasserin zahlreicher Bücher, darunter zuletzt „Mission. Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft“, Campus Verlag, 26 Euro.

Der „Konsens von Washington“ ist ein Auslaufmodell. Das „Economic Resilience Panel“ der G7-Staaten (in dem ich Italien vertrete) verlangt in seinem jüngsten Bericht eine radikal andere Beziehung zwischen öffentlichem und privatem Sektor, um eine nachhaltige, gerechte und resiliente Wirtschaft zu schaffen. Wollen die Staats- und Regierungschefs der Industriestaaten und großen Schwellenländer die großen Herausforderungen unserer Zeit meistern – darunter die Pandemie, der Klimawandel, die wachsende Ungleichheit und die wirtschaftliche Unsicherheit – dürfen sich nicht auf überholte Annahmen zurückgreifen, die uns die derzeitige Bescherung eingebrockt haben.

Zur Erinnerung: Der „Washingtoner Konsens“ legte fast ein halbes Jahrhundert lang die Spielregeln für die Weltwirtschaft fest. Der Begriff kam 1989 in Mode, also just in dem Jahr, in dem der Kapitalismus westlichen Stils seine globale Reichweite konsolidierte. Er bezeichnet eine Palette fiskal-, steuer- und handelspolitischer Grundsätze, die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank propagiert wurden - und entwickelte sich zu einem Slogan für die neoliberale Globalisierung. Man verordnete Ländern, die in Krisen geraten waren, Haushaltskürzungen und Währungsabwertungen - und geriet damit selbst bei leitenden Akteuren der zentralen Institutionen in Misskredit, weil die Maßnahmen die Ungleichheit verschärften und die Unterordnung des globalen Südens gegenüber dem Norden verfestigten.

Nachdem die Welt zweimal knapp an einem weltwirtschaftlichen Crash vorbeigeschrammt ist (erst die Finanzkrise 2008, dann die Coronakrise 2020, die das Finanzsystem beinahe zum Einsturz gebracht hätte), steht sie nun vor beispiellosen Risiken, Unsicherheiten, Turbulenzen – und vor dem Zusammenbruch des Klimas. Die Staats- und Regierungschefs der Welt stehen vor einer simplen Entscheidung: weiterhin ein gescheitertes Wirtschaftssystem zu unterstützen oder den „Washingtoner Konsens“ zugunsten eines neuen internationalen Gesellschaftsvertrags aufzugeben.

Die Alternative ist der kürzlich vorgelegte „Cornwall-Konsens“. Während der Washingtoner Konsens die Rolle des Staates in der Wirtschaft minimierte und eine aggressive marktwirtschaftliche Agenda der Deregulierung, Privatisierung und Handelsliberalisierung verfolgte, würde der Cornwall-Konsens (gemäß der jüngsten Zusagen auf dem G7-Gipfel im Juni) diese Gebote umkehren. Er würde uns durch eine Wiederbelebung der wirtschaftlichen Rolle des Staates uns in die Lage versetzen, gesellschaftliche Ziele zu verfolgen, für internationale Solidarität zu sorgen und die „Global Governance“ zugunsten des Gemeinwohls zu reformieren.
Konkret würden Subventionen und Investitionen staatlicher und multilateraler Organisationen den Empfängern auferlegen, eine rasche Dekarbonisierung ihrer Wirtschaft zu betreiben - statt einer raschen Marktliberalisierung. Die Regierungen würden von Reparaturen (Interventionen nach Eintreten eines Schadensfalls) auf Vorsorgemaßnahmen umschwenken, um uns vor künftigen Risiken und Erschütterungen zu schützen.

Der „Cornwall-Konsens“ würde uns zudem von der reaktiven Reparatur von Marktversagen zur proaktiven Gestaltung und Schaffung einer Art von Märkten bringen, die wir brauchen, um grünen Volkswirtschaften den Weg zu ebnen. Wir würden dabei eine nachträgliche Umverteilung durch vorherige Aufwendungen ersetzen. Der Staat würde missionsorientierte öffentlich-private Partnerschaften koordinieren, die darauf abzielen, eine resiliente, nachhaltige und gerechte Wirtschaft ins Leben zu rufen.

Warum bedarf es eines neuen Konsenses? Die offensichtlichste Antwort auf diese Frage lautet, dass das alte Modell nicht länger einen breit gestreuten Nutzen hervorbringt – sofern es das überhaupt je getan hat. Tatsächlich hat es sich als katastrophal unfähig erwiesen, effektiv auf massive wirtschaftliche, ökologische und epidemiologische Erschütterungen zu reagieren. Die Umsetzung der 2015 verabschiedeten Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (UN) war im Rahmen der vorherrschenden Global-Governance-Arrangements fragwürdig; nun ist sie – im Gefolge einer Pandemie, die die Kapazitäten von Staaten und Märkten bis über die Grenzen der Belastbarkeit hinaus strapaziert hat – unmöglich geworden. Die heutige Krisenlage erzwingt einen neuen globalen Konsens, wenn die Menschheit auf diesem Planeten überleben will. Wir stehen an der Schwelle eines überfälligen Paradigmenwechsels.

Das Problem: Die Fortschritte könnten allzu leicht rückgängig gemacht werden. Die meisten Wirtschaftsinstitutionen folgen noch immer veralteten Regeln, die es ihnen verunmöglichen, die zur Beendigung der Pandemie erforderlichen Maßnahmen zu veranlassen oder das Ziel des Pariser Klimaabkommens (die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellem Niveau) zu erreichen.

Unser Bericht stellt die dringende Notwendigkeit heraus, die Widerstandsfähigkeit der Weltwirtschaft gegen künftige Risiken und Erschütterungen zu verstärken, seien sie akut (wie im Fall von Pandemien) oder chronisch (wie die extreme Polarisierung bei Vermögen und Einkommen).

Wir sprechen uns für eine radikale Neuorientierung bei der Betrachtung wirtschaftlicher Entwicklung aus – und rücken dabei auch ab von der traditionellen Messung des BIP-Wachstums, der Bruttowertschöpfung und der Finanzerträge zugunsten einer Erfolgsbewertung auf Basis des Erreichens ehrgeiziger gemeinsamer Ziele.

Drei der hervorstechendsten Empfehlungen des Berichts betreffen COVID-19, die wirtschaftliche Erholung im Gefolge der Pandemie und den Zusammenbruch des Klimas.

Erstens: Wir fordern die Industriestaaten auf, weltweite Impfgerechtigkeit herzustellen und umfangreiche Investitionen in die Pandemiebereitschaft und eine missionsorientierte Finanzierung des Gesundheitswesens zu tätigen. Eine Spitzenpriorität genießt der faire Zugriff auf Innovationen, die von hohen öffentlichen Investitionen und vorgängigen Abnahmeverpflichtungen profitieren.

Uns ist bewusst, dass dies einen neuen Ansatz zur Regelung geistiger Eigentumsrechte erfordern wird. In ähnlicher Weise betont der Council on the Economics of Health for all (dem ich vorsitze), dass die Regulierung des geistigen Eigentums reformiert werden sollte, um anzuerkennen, dass Wissen das Ergebnis eines kollektiven Wertschöpfungsprozesses ist.

Zweitens sprechen wir uns für mehr staatliche Investitionen in die postpandemische Wirtschaftserholung aus, und wir unterstützen die Empfehlung des Ökonomen Nicholas Stern, dass diese Ausgaben auf zwei Prozent vom BIP jährlich erhöht werden sollten. Dies würde bis 2030 jährlich eine Billion Dollar mobilisieren.

Doch mehr Geld zur Verfügung zu stellen, reicht allein nicht aus; genauso wichtig ist, wie das Geld ausgegeben wird. Die öffentlichen Investitionen müssen durch neue vertragliche und institutionelle Mechanismen kanalisiert werden, die statt kurzfristigen privaten Profits die Schaffung eines langfristigen öffentlichen Nutzens messen und dafür Anreize setzen.

Und in Reaktion auf die größte Herausforderung von allen – die Klimakrise – plädieren wir drittens für ein „CERN der Klimatechnologie“. Inspiriert von der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) würde ein missionsorientiertes, auf die Dekarbonisierung der Wirtschaft fokussiertes Forschungszentrum öffentliche und private Investitionen zu ehrgeizigen Projekten bündeln, darunter der Entzug von Kohlendioxid aus der Atmosphäre und die Schaffung kohlenstofffreier Lösungen für Branchen wie die Schifffahrt, Luftfahrt, Stahl- und Zementindustrie, in denen eine CO2-Minderung schwierig ist. Diese neue multilaterale, interdisziplinär arbeitende Institution würde als Katalysator zur Schaffung und Gestaltung neuer Märkte für erneuerbare Energien und Kreislaufproduktion fungieren.

Dies sind nur drei der sieben Empfehlungen, die wir für die kommenden Jahre abgegeben haben. Zusammen bieten sie das Gerüst für einen neuen globalen Konsens – eine politische Agenda zur Regelung des neuen, bereits Gestalt annehmenden Wirtschaftsparadigmas.

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Ob der „Cornwall-Konsens“ Bestand haben wird? Warten wir’s ab. So oder so: Irgendetwas muss an die Stelle des „Washingtoner Konsens“ treten, wenn wir auf diesem Planeten gut leben und nicht nur überleben wollen. COVID-19 bietet einen flüchtigen Eindruck von den enormen Problemen kollektiven Handelns, vor denen wir stehen. Nur neuerliche internationale Zusammenarbeit und die Koordination erweiterter staatlicher Kapazitäten – ein neuer internationaler Gesellschaftsvertrag – können uns auf die Bewältigung der kommenden, sich verschärfenden, ineinander greifenden Krisen vorbereiten.

Mehr zum Thema: Schon vor sieben Jahren warnte Ian Goldin vor einer Pandemie als Auslöser der nächsten Wirtschaftskrise – und vor Stau in den Lieferketten. Heute sagt der Oxford-Professor: „Unser aktueller Kurs führt schnurstracks auf eine Klippe zu“

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