Görlachs Gedanken

Die gefährliche Brexit-Konfrontation

130 Milliarden Euro Miese und eine Million verlorene Jobs – die Brexit-Folgen dürften verheerend sein. Die Debatte um einen britischen EU-Ausstieg wird immer schriller, was für Europa und Großbritannien gefährlich ist.

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Londons Sonderwege in Europa
1960Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt. Im Bild: Der damalige EFTA-Generalsektretär Kjartan Joahnnsson (rechts) mit seinem Vorgänger Georg Reisch (links) zu den Feierlichkeiten zum 40-jährigen BEstehen der EFTA in Genf. Quelle: REUTERS
Charles de Gaulle Quelle: AP
Premier Harold Wilson Quelle: REUTERS
Margaret Thatcher Quelle: AP
1990Die EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit. Quelle: AP
John Major, ehemaliger Premier Großbritanniens Quelle: REUTERS
Premier Tony Blair Quelle: AP

Die Rhetorik auf beiden Seiten des Ärmelkanals verschärft sich. Die Abstimmung über den Brexit erhitzt die Gemüter. Nun geht es endgültig nicht mehr darum, Argumente zu diskutieren, die die EU verbessern könnten oder die Frage zu beantworten, wie Großbritannien seine Rolle in der Union optimieren könnte.

Für englische Nationalisten ist der Schlag gegen den Kontinent, zu dem sie jetzt ausholen, vielmehr ein Fanal: sie mögen sich in das Empire zurückdenken, in dem, wenn überhaupt, der Kontakt zum Festland aus überheblichen, dominanten Gesten bestand, und nicht in gleichberechtigter Interaktion. Und Teile der Presse möchten jetzt den Brexit befördern, just because they can. Einige Blätter wollen sich einfach nur beweisen, dass sie den Lauf der Geschichte noch beeinflussen können, wenn sie es wollen.

England ist den Ländern auf dem geschmähten Kontinent, diese Analyse wird man in London, Manchester und Birmingham nicht lieben, viel näher als manchen Kommentatoren lieb ist: Rechtspopulismus greift um sich und die gefühlten Verlierer der Globalisierung und die echten Abgehängten sehen in der Zusammenarbeit der Völker, dem freien Handel, dem freien Verkehr von Gütern und Personen keinen Gewinn mehr, sondern Gefahr und Bedrohung. Die Protagonisten des Brexit nutzen diese Angst, um die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Klingelt da was? Madame LePen oder AfD? Genau. Und da Angst auf beiden Seiten des Kanals kein guter Ratgeber ist, ist die Diskussion hier wie dort eine von nationalem Stolz und hochgezogenen Zugbrücken geworden.

Alexander Görlach ist Affiliate der Harvard University. Quelle: Lars Mensel / The European

In dieser Atmosphäre der Angst versteigt sich der Telegraph zu der Aussage, dass England die EU nicht bräuchte, wohl aber Deutschland England benötigte, um wirtschaftlich zu überleben. Wer das seinen Lesern verkauft, verdreht die Fakten: Die City of London, die Bank of England, verschiedene internationale agierende Unternehmen, die über England den Zugang zum EU-Markt haben, betonen seit Wochen, dass ein Ausstieg des Landes aus der Europäischen Union drastische Folgen haben würde. 

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC kommt in einer neuen Studie zu dem Schluss, dass sich die die Kosten auf 100 Milliarden Pfund, knapp 130 Milliarden Euro summierenkönnten, wenn Großbritannien die EU verließe. Bis zu 950.000 Jobs könnten verloren gehen.

Die Eskapaden der Engländer wurden in der Vergangenheit auf dem Festland schon immer als eine verschrobene Eigenart gesehen. Es gab immer eine englische Sonderwurst, die man sich auf der Insel in reichlich imperialem Öl zum Frühstück gebacken hatte. Irgendwann ist dann die Geduld erschöpft. Und ja, es fällt als Beobachter des englischen Abdriften schwer, nicht auch in eine Rhetorik zu verfallen, die so geht: gut, dann tretet halt aus, fallt auf die Fresse und kommt dann wieder angekrochen. Nur, soll man so mit einem Partner reden? So über ihn denken?

Ein Beschwören der europäischen Identität als icebreaker in der Diskussion wird nicht verfangen: nur 15 Prozent der Engländer begreifen sich als Europäer und würden sich laut Guardian im Zweifel auch so selbst bezeichnen. Darin wusste sich das kleine Inselreich schon immer von den Kontinentaleuropäern verschieden. Aber nur zusammen sein, weil es ökonomisch Sinn macht. Der Utilitarismus wurde zwar in England erfunden, aber er reicht nicht aus, um für ein solch gewagtes und großartiges Projekts wie der EU eine Identität zu kreieren.

Es steht viel auf dem Spiel

Das wird an Stellen wie diesen deutlich: Die aus Deutschland stammende Gisela Stuart ist nun die Abgeordnete, die die Brexit-Kampagne orchestrieren soll. Die geborene Bayerin gefällt sich in Aussagen, dass sie nicht verstehen könne, wieso ein Taxifahrer aus Pakistan gegenüber einem Arbeiter aus Bulgarien benachteiligt sein solle, wenn es um Immigration und Arbeitserlaubnis in England ginge. Man fühle sich als Engländer den alten Kolonien unter Umständen näher. Dass es den Engländern frei steht, so viele Immigranten aufzunehmen, wie sie möchten, verschweigt sie.

Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa

Stattdessen befeuert eine Deutsche, die selbst als Kontinentaleuropäerin von einem studentischen Programm profitiert und das sie in ihre neue Heimat England geführt hat, den nationalen Diskurs in einer Art, wie er weder in Deutschland noch in England jemals Frieden gestiftet hätte, sondern nur Zwietracht und Uneinigkeit sät. Und sie sagt an die Adresse der kantianisch denkenden Deutschen: Man sei doch kein schlechter Mensch, wenn man für einen Brexit stimmte. Vielleicht kein schlechter, möchte man antworten, aber ein dummer. Zumindest wenn man sich von nationaler Rhetorik einlullen lässt.

Was die Aufnahme von Flüchtlingen betrifft, so hat sich England nicht auffällig in den Vordergrund gespielt. Es geht nicht um Zuwanderer, es geht auch nicht um Moral. Es geht um einen maximalen Nutzen von dem die Rede geht, dass in England alleine und für sich bestimmen könne ohne auf europäische Partner achten zu müssen. 

Was ist die Konsequenz? Wenn England für einen Austritt aus der EU stimmen würde, dann müssten Politiker wie Gisela Stuart die Massenflucht von Industrie und Banken von der Insel in Richtung Kontinent verantworten. Der Wohlstand auf dem Eiland ist ohnehin mürbe, das einstmals stolz produzierende England ist de-industrialisiert und lebt von den offenen Grenzen für Kapital und Güter. 

Es steht aber mehr auf dem Spiel als nur freier Warentransfer: Die große Errungenschaft der europäischen Einigung ist doch in erster Linie, dass verfeindete Nationen wie Deutschland und Frankreich, aber auch Deutschland und England zueinander Vertrauen gefunden und zusammen gearbeitet haben. Niemand kann diesen politischen Erfolg abstreiten, der zu Prosperität geführt hat.

Nun verschärft sich die Tonlage auf beiden Seiten, auch einen Artikel wie diesen schreiben zu müssen, hätte ich mir vor einigen Jahren nicht träumen lassen, und wir verstehen uns so wenig wie schon lange nicht mehr. Egal, ob England in der EU bleibt oder nicht, die Wunden, die durch die Brexit-Debatte geschlagen wurden, werden lange brauchen, bis sie heilen. Diese Verwüstung in den Herzen wiegt weit schlimmer als jede ökonomische Verwerfung. 

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