Die Rhetorik auf beiden Seiten des Ärmelkanals verschärft sich. Die Abstimmung über den Brexit erhitzt die Gemüter. Nun geht es endgültig nicht mehr darum, Argumente zu diskutieren, die die EU verbessern könnten oder die Frage zu beantworten, wie Großbritannien seine Rolle in der Union optimieren könnte.
Für englische Nationalisten ist der Schlag gegen den Kontinent, zu dem sie jetzt ausholen, vielmehr ein Fanal: sie mögen sich in das Empire zurückdenken, in dem, wenn überhaupt, der Kontakt zum Festland aus überheblichen, dominanten Gesten bestand, und nicht in gleichberechtigter Interaktion. Und Teile der Presse möchten jetzt den Brexit befördern, just because they can. Einige Blätter wollen sich einfach nur beweisen, dass sie den Lauf der Geschichte noch beeinflussen können, wenn sie es wollen.
England ist den Ländern auf dem geschmähten Kontinent, diese Analyse wird man in London, Manchester und Birmingham nicht lieben, viel näher als manchen Kommentatoren lieb ist: Rechtspopulismus greift um sich und die gefühlten Verlierer der Globalisierung und die echten Abgehängten sehen in der Zusammenarbeit der Völker, dem freien Handel, dem freien Verkehr von Gütern und Personen keinen Gewinn mehr, sondern Gefahr und Bedrohung. Die Protagonisten des Brexit nutzen diese Angst, um die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Klingelt da was? Madame LePen oder AfD? Genau. Und da Angst auf beiden Seiten des Kanals kein guter Ratgeber ist, ist die Diskussion hier wie dort eine von nationalem Stolz und hochgezogenen Zugbrücken geworden.
In dieser Atmosphäre der Angst versteigt sich der Telegraph zu der Aussage, dass England die EU nicht bräuchte, wohl aber Deutschland England benötigte, um wirtschaftlich zu überleben. Wer das seinen Lesern verkauft, verdreht die Fakten: Die City of London, die Bank of England, verschiedene internationale agierende Unternehmen, die über England den Zugang zum EU-Markt haben, betonen seit Wochen, dass ein Ausstieg des Landes aus der Europäischen Union drastische Folgen haben würde.
Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC kommt in einer neuen Studie zu dem Schluss, dass sich die die Kosten auf 100 Milliarden Pfund, knapp 130 Milliarden Euro summierenkönnten, wenn Großbritannien die EU verließe. Bis zu 950.000 Jobs könnten verloren gehen.
Die Eskapaden der Engländer wurden in der Vergangenheit auf dem Festland schon immer als eine verschrobene Eigenart gesehen. Es gab immer eine englische Sonderwurst, die man sich auf der Insel in reichlich imperialem Öl zum Frühstück gebacken hatte. Irgendwann ist dann die Geduld erschöpft. Und ja, es fällt als Beobachter des englischen Abdriften schwer, nicht auch in eine Rhetorik zu verfallen, die so geht: gut, dann tretet halt aus, fallt auf die Fresse und kommt dann wieder angekrochen. Nur, soll man so mit einem Partner reden? So über ihn denken?
Ein Beschwören der europäischen Identität als icebreaker in der Diskussion wird nicht verfangen: nur 15 Prozent der Engländer begreifen sich als Europäer und würden sich laut Guardian im Zweifel auch so selbst bezeichnen. Darin wusste sich das kleine Inselreich schon immer von den Kontinentaleuropäern verschieden. Aber nur zusammen sein, weil es ökonomisch Sinn macht. Der Utilitarismus wurde zwar in England erfunden, aber er reicht nicht aus, um für ein solch gewagtes und großartiges Projekts wie der EU eine Identität zu kreieren.
Es steht viel auf dem Spiel
Das wird an Stellen wie diesen deutlich: Die aus Deutschland stammende Gisela Stuart ist nun die Abgeordnete, die die Brexit-Kampagne orchestrieren soll. Die geborene Bayerin gefällt sich in Aussagen, dass sie nicht verstehen könne, wieso ein Taxifahrer aus Pakistan gegenüber einem Arbeiter aus Bulgarien benachteiligt sein solle, wenn es um Immigration und Arbeitserlaubnis in England ginge. Man fühle sich als Engländer den alten Kolonien unter Umständen näher. Dass es den Engländern frei steht, so viele Immigranten aufzunehmen, wie sie möchten, verschweigt sie.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Stattdessen befeuert eine Deutsche, die selbst als Kontinentaleuropäerin von einem studentischen Programm profitiert und das sie in ihre neue Heimat England geführt hat, den nationalen Diskurs in einer Art, wie er weder in Deutschland noch in England jemals Frieden gestiftet hätte, sondern nur Zwietracht und Uneinigkeit sät. Und sie sagt an die Adresse der kantianisch denkenden Deutschen: Man sei doch kein schlechter Mensch, wenn man für einen Brexit stimmte. Vielleicht kein schlechter, möchte man antworten, aber ein dummer. Zumindest wenn man sich von nationaler Rhetorik einlullen lässt.
Was die Aufnahme von Flüchtlingen betrifft, so hat sich England nicht auffällig in den Vordergrund gespielt. Es geht nicht um Zuwanderer, es geht auch nicht um Moral. Es geht um einen maximalen Nutzen von dem die Rede geht, dass in England alleine und für sich bestimmen könne ohne auf europäische Partner achten zu müssen.
Was ist die Konsequenz? Wenn England für einen Austritt aus der EU stimmen würde, dann müssten Politiker wie Gisela Stuart die Massenflucht von Industrie und Banken von der Insel in Richtung Kontinent verantworten. Der Wohlstand auf dem Eiland ist ohnehin mürbe, das einstmals stolz produzierende England ist de-industrialisiert und lebt von den offenen Grenzen für Kapital und Güter.
Es steht aber mehr auf dem Spiel als nur freier Warentransfer: Die große Errungenschaft der europäischen Einigung ist doch in erster Linie, dass verfeindete Nationen wie Deutschland und Frankreich, aber auch Deutschland und England zueinander Vertrauen gefunden und zusammen gearbeitet haben. Niemand kann diesen politischen Erfolg abstreiten, der zu Prosperität geführt hat.
Nun verschärft sich die Tonlage auf beiden Seiten, auch einen Artikel wie diesen schreiben zu müssen, hätte ich mir vor einigen Jahren nicht träumen lassen, und wir verstehen uns so wenig wie schon lange nicht mehr. Egal, ob England in der EU bleibt oder nicht, die Wunden, die durch die Brexit-Debatte geschlagen wurden, werden lange brauchen, bis sie heilen. Diese Verwüstung in den Herzen wiegt weit schlimmer als jede ökonomische Verwerfung.