Die Wochen, die hinter uns liegen, haben uns mürbe gemacht: Terror und Amok in Orlando, Nizza, Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach. In Echtzeit landen die Nachrichten darüber auf unseren Facebook-Profilen in unseren Smartphones. Wir haben uns eingeschlossen und sind mit dem Kreislauf von Gewalt und Tod auf Du und Du. Und dessen Deutung, der in endlosen Schleifen über unser Profil wandert. Echtzeit-Ticker, Live-Berichterstattung, Meinungsbeiträge der etablierten Medien unter denen heftig kommentiert wird, gehört mittlerweile wie selbstverständlich zu unserer Informationsgewinnung.
Damit sind Kosten verbunden, echte materielle und immaterielle für die Gesellschaft. Ich sage nicht, dass wir diese beiden Kostenarten durch das Abschalten von Facebook und Twitter vermeiden und umgehen sollen. Aber: Wir müssen uns diese Kosten bewusst machen und vor Augen führen, was mit ihnen verbunden ist. Wenn die Polizei in München darum bittet, keine Videos des Tatorts zu posten, keine Adressen oder anderen sensiblen Daten über den Hashtag #offenetueren zu verbreiten, dann sind das zwei Beispiele, die die materielle und die immaterielle Kostenseite zeigen.
Wer sensible Daten veröffentlicht, während der oder die Täter noch frei herumlaufen, der riskiert seine und die Sicherheit anderer. Wer unvorsichtig oder zu leichtfertig über soziale Kanäle von Verdächtigen an verschiedenen Stellen der Stadt schreibt, der zwingt die Polizeikräfte, ihre Anstrengung auf verschiedene Schauplätze zu verteilen. Dies verschwendet Ressourcen, kostet Geld und geht zu Lasten der Sicherheit.
Niemand, der in der Not oder in Panik etwas in München gepostet hat, hatte das auf dem Schirm und wie denn auch – es war das erste Mal, dass in Deutschland der so genannte "Safety-Check" von Facebook aktiviert werden musste. Diese Notmaßnahme aktiviert der Social-Media-Konzern bei Erdbeben und anderen Katastrophen, damit Familie und Freunde sehen können, dass Familienangehörige, Freunde und Bekannte in Sicherheit sind – in diesem Fall eben Bürger aus München.
Im Zuge des Münchener Amoklaufs wurde ein Kostenpunkt in den Vordergrund gestellt, über dessen Höhe noch überhaupt keine Angabe gemacht werden kann: der gesellschaftliche Schaden, der angerichtet wird, wenn Spekulationen und Vermutungen die Runde machen, die durch nichts gedeckt sind. Ein Society-Journalisten-Kollege bemerkte zu dem Amoklauf in München spitz auf seinem Facebook-Profil "Sie sind da" und meinte damit nicht Außerirdische, sondern die Muslime, Islamisten, Moslemterror halt. Warum sich die Mühe machen, mal abzuwarten, sich zurückzuhalten?
Es war kein islamistischer Terror, es hat nicht der IS in München gewütet. Die Toten sind dennoch zu beweinen, ein Innehalten, was letztendlich Trauer bedeutet, ist angezeigt. Es waren nebenbei bemerkt, die Moscheegemeinden in München, die über Social Media gestrandeten Menschen für die Nacht Obdach angeboten haben. Wenn man schnell und falsch schießt, trifft man die falschen. Umso wichtiger war das Zeichen der islamischen Gemeinden in der bayerischen Landeshauptstadt.
Wir brauchen eine neue Epoche der Aufklärung
Durch vorschnelles Aburteilen wird eingezahlt auf die ohnehin schon vorhandene Panikmache in unserer Gesellschaft. Der rechte Rand, die AfD, war natürlich sofort zur Stelle, aber auch in der demokratischen Rechten, der CSU, war man tags darauf schnell mit nicht verfassungskonformen Forderungen nach einem Bundeswehreinsatz im Inneren. Wenn undemokratische Kräfte solche Ereignisse instrumentalisieren, mag man sagen, man hat nichts anderes erwartet. Bei demokratischen ist das ein besonders schwerer Schlag.
Reaktionen auf einen Einzeltäter wie in München müssen überlegt, diskutiert und dann im parlamentarischen Verfahren eingebracht und letztendlich in Gesetzesform verabschiedet werden. In solchen Momenten müssen eigenen Interessen zurückstehen. Und nur nebenbei gesagt: Die Bundeswehr für einen Einsatz im Inneren fit zu machen, ist aufwendig sowie zeit- und kostenintensiv.
Ein Beitrag in den sozialen Netzwerken versuchte die Rechnung aufzumachen, wie viel Schadensersatz Facebook zahlen solle, weil es den Tunnel-Blick bei den Menschen fördere, also die so genannte Filter-Bubble kreiert habe. Die besagt, dass Menschen in sozialen Netzwerken jenen folgen, deren Meinung sie ohnehin schon teilen. Andere Meinungen kommen nicht mehr vor. Und sollte man doch erfahren, dass man falsch liegt, wird das abgetan oder als Verschwörung der Regierung oder der Lügenpresse diffamiert.
Soziale Medien verstärken das, was es in der analogen Zeit auch schon gab. Am Kiosk hat der FAZ-Käufer doch eher selten nach der taz verlangt. Silos im Kopf führen zu Kosten für die Volkswirtschaft, weil sich ganze Kohorten oder Gruppen auf einen falschen Pfad begeben und den mit Verve bis zur Klippe verfolgen, über die sie dann springen.
Hysterie und Angst führen zu Übersprunghandlungen, Vorverurteilungen und falschen Werturteilen. Die Kosten für unsere Demokratie sind kaum zu beziffern. Im Prinzip ist ein entfesselter Demos nicht bereit, verantwortungsvoll zu wählen. Damit ist die Funktionsweise unserer Demokratie in Frage gestellt. Wer möchte beginnen, an den Märkten gegen die liberalen Demokratien des Westens, gegen die EU zu wetten? Es gibt sicher einzelne, die aus dem Untergang Profit schlagen würden. Auf die restlichen 99 Prozent kämen düstere Zeiten zu. Diese wären selbstverschuldet, weil man sich in die eigene Unmündigkeit zurück verkrochen hat.
Wie dem entgegen wirken? Sicher nicht, in dem man die sozialen Medien abschaltet, sondern das Projekt der Aufklärung wiederbelebt. Die Europäer rühmen sich für diesen Prozess einer geistigen und sozialen Reformbewegung, gesteuert durch rationales Denken. Die Aufklärung ist ein ständiger und niemals abgeschlossener Prozess. Entweder wir beleben ihn neu oder wir ziehen wieder zurück in die Höhle. Das wäre der Preis für unsere intellektuelle Selbstaufgabe.