Görlachs Gedanken Uns droht die intellektuelle Selbstaufgabe

Getrieben von Terror und Amok haben viele Menschen in den sozialen Netzwerken massenhaft Unsinn verbreitet. Das schadet unserer Gesellschaft und Demokratie. Wir Europäer müssen jetzt zu einem alten Konzept zurückfinden.

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Die Hilfsbereitschaft während des Amoklaufs in München war groß. Doch nicht jeder gut gemeinte Tweet ist auch nützlich. Quelle: dpa

Die Wochen, die hinter uns liegen, haben uns mürbe gemacht: Terror und Amok in Orlando, Nizza, Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach. In Echtzeit landen die Nachrichten darüber auf unseren Facebook-Profilen in unseren Smartphones. Wir haben uns eingeschlossen und sind mit dem Kreislauf von Gewalt und Tod auf Du und Du. Und dessen Deutung, der in endlosen Schleifen über unser Profil wandert. Echtzeit-Ticker, Live-Berichterstattung, Meinungsbeiträge der etablierten Medien unter denen heftig kommentiert wird, gehört mittlerweile wie selbstverständlich zu unserer Informationsgewinnung.

Damit sind Kosten verbunden, echte materielle und immaterielle für die Gesellschaft. Ich sage nicht, dass wir diese beiden Kostenarten durch das Abschalten von Facebook und Twitter vermeiden und umgehen sollen. Aber: Wir müssen uns diese Kosten bewusst machen und vor Augen führen, was mit ihnen verbunden ist. Wenn die Polizei in München darum bittet, keine Videos des Tatorts zu posten, keine Adressen oder anderen sensiblen Daten über den Hashtag #offenetueren zu verbreiten, dann sind das zwei Beispiele, die die materielle und die immaterielle Kostenseite zeigen.

Wer sensible Daten veröffentlicht, während der oder die Täter noch frei herumlaufen, der riskiert seine und die Sicherheit anderer. Wer unvorsichtig oder zu leichtfertig über soziale Kanäle von Verdächtigen an verschiedenen Stellen der Stadt schreibt, der zwingt die Polizeikräfte, ihre Anstrengung auf verschiedene Schauplätze zu verteilen. Dies verschwendet Ressourcen, kostet Geld und geht zu Lasten der Sicherheit.

Alexander Görlach ist Affiliate der Harvard University. Quelle: Lars Mensel / The European

Niemand, der in der Not oder in Panik etwas in München gepostet hat, hatte das auf dem Schirm und wie denn auch – es war das erste Mal, dass in Deutschland der so genannte "Safety-Check" von Facebook aktiviert werden musste. Diese Notmaßnahme aktiviert der Social-Media-Konzern bei Erdbeben und anderen Katastrophen, damit Familie und Freunde sehen können, dass Familienangehörige, Freunde und Bekannte in Sicherheit sind – in diesem Fall eben Bürger aus München.

Im Zuge des Münchener Amoklaufs wurde ein Kostenpunkt in den Vordergrund gestellt, über dessen Höhe noch überhaupt keine Angabe gemacht werden kann: der gesellschaftliche Schaden, der angerichtet wird, wenn Spekulationen und Vermutungen die Runde machen, die durch nichts gedeckt sind. Ein Society-Journalisten-Kollege bemerkte zu dem Amoklauf in München spitz auf seinem Facebook-Profil "Sie sind da" und meinte damit nicht Außerirdische, sondern die Muslime, Islamisten, Moslemterror halt. Warum sich die Mühe machen, mal abzuwarten, sich zurückzuhalten?

Es war kein islamistischer Terror, es hat nicht der IS in München gewütet. Die Toten sind dennoch zu beweinen, ein Innehalten, was letztendlich Trauer bedeutet, ist angezeigt. Es waren nebenbei bemerkt, die Moscheegemeinden in München, die über Social Media gestrandeten Menschen für die Nacht Obdach angeboten haben. Wenn man schnell und falsch schießt, trifft man die falschen. Umso wichtiger war das Zeichen der islamischen Gemeinden in der bayerischen Landeshauptstadt.

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