




Vor fast 200 Jahren gab es tatsächlich noch einen Bayern, der die Griechen mochte. König Ludwig I. hatte gerade damit begonnen, seine Residenzstadt mit klassizistischen Repräsentationsbauten auszuschmücken. Er war ein begeisterter Philhellene, wie so viele Deutsche damals, und wollte "nicht ruhen, bis München so aussieht wie Athen". Und natürlich streckte er den Griechen seine helfende Hand entgegen, als der neue Staat 1830 gegründet wurde. Eine nationale Troika - Großbritannien, Frankreich und Russland - trat damals als alliierte Garantiemacht für die "Unabhängigkeit" Griechenlands auf. Aber weil sich die Großmächte noch nicht einig waren, an welchen Interessen und Einflusssphären entlang sie die Region nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches ordnen sollten, klopften sie kurzerhand bei Ludwig an: Ob nicht die Bayern, als neutrale Mittelmacht, den König von Griechenland stellen wollten?
Ludwig wollte, klar. Griechenland sollte ein moderner Staat werden. Ein Leuchtturm der europäischen Kultur im Orient. Ein Muster der Zivilisation auf dem Balkan. Am 7. Mai 1832 wurde Ludwigs Sohn, Prinz Otto, zum Regenten bestimmt. Die Bayern verlegten die Hauptstadt von Nafplion nach Athen und ließen die Antike in prächtigen Neubauten aufleben. Sie profitierten von einem großzügigen Aufbaukredit der Großmächte (60 Millionen Goldfrancs), gründeten einen Rechnungshof - und führten die Drachme ein.

Karl Marx hatte also doch recht: Geschichte ereignet sich zweimal, einmal als Tragödie und einmal als Farce. Zur Tragödie gehört, dass die kleine Schar der bayerischen Verwaltungsbeamten damals auf die Hilfe griechischer Amtsträger angewiesen war, die das reichlich fließende Geld in politische Macht ummünzten. Gleich unterhalb der obersten Regierungsebene etablierte sich ein subventioniertes Gefälligkeitssystem: Posten wurden vermittelt, Gefolgschaft zahlte sich aus - und der Staat wurde von Anfang an als eine Art Finanz-Zapfsäule wahrgenommen.
Zur Farce gehört, dass das moderne Griechenland sich nun schon seit fast 40 Jahren selbst zur Beute seiner Klientelwirtschaft macht, die Finanz-Zapfsäule seit 1981 in Brüssel liegt - und die Einführung der Drachme anno 2015 keine Verheißung, sondern eine Bedrohung ist: „Es kommt jetzt alles darauf an, den Lobbyisten der Drachme zu widerstehen“, sagt Umweltminister Yiannis Tsironis, der einzige Politiker der Oikologoi Prasinaoi (Grüne) im Kabinett von Ministerpräsident Alexis Tsipras (Syriza), im Interview mit der WirtschaftsWoche - und ist sich in diesem Punkt restlos einig mit Oppositionsführer Kostis Chatzidakis: “Die Rückkehr zur alten Währung wäre ein nationales Desaster", so der ehemalige Wirtschaftsminister im WiWo-Gespräch: "Wir dürfen nicht zulassen, dass die Hardliner in Athen und Brüssel siegen - und der Grexit unser Land zugrunde richtet."

Chatzidakis ist Abgeordneter der konservativen Partei Nea Dimokratia (ND), die im Januar abgewählt wurde. Sie hat Ministerpräsident Alexis Tsipras (Syriza) bis Sonntag laufend bezichtigt, Griechenlands europäische Zukunft aufs Spiel zu setzen, sein Volk in Geiselhaft zu nehmen für seinen linksideologischen Kreuzzug gegen den Kapitalismus, die Gesellschaft zu spalten mit seinem Die-oder-Ich-Referendum - und soziale Unruhen zu provozieren mit seiner Politik der geschlossenen Banken. Tsipras seinerseits unternahm alle Anstrengungen, den Vorwürfen gerecht zu werden.
Er machte erneut Brüssel, Berlin und die Banken für das soziale Elend vieler Griechen verantwortlich, schrieb Wolfgang Schäuble auf Wahlplakaten gewissermaßen zur Fahndung aus - und ließ seinen rhetorischen Pitbull von der Leine, Finanzminister Yannis Varoufakis: "Was man mit Griechenland macht, hat einen Namen: Terrorismus." Selbst ein Medienprofi und erfahrener Filmemacher wie Stelios Kouloglou, der 2014 eine Dokumentation über "Gottmutter" Angela Merkel und ihre "Hegemoniepläne" in Europa gedreht hat und seit 2015 für Syriza im EU-Parlament sitzt, war zwei Stunden vor dem Wahlausgang mulmig zumute: "Griechenland ist polarisiert wie nie", so Kolouglou in seinem weiß gefliesten, schattigen Hinterhof-Büro in der Nachbarschaft des zentralen Syntagma-Platzes: "Ganz gleich, wie es ausgeht: Wir laufen in eine Lose-Lose-Situation hinein."
Diese Reformvorschläge bietet Griechenland an
Die griechische Regierung verspricht, sich an Ziele für den Primärüberschuss zu halten: ein Prozent in diesem Jahr, zwei Prozent im Jahr 2016, drei und 3,5 Prozent für 2017 beziehungsweise 2018.
Die Vorschläge aus Athen beinhalten eine Reihe von Steuererhöhungen, darunter eine Mehrwertsteuer für Restaurant und weitere Gastronomiebetriebe von 23 Prozent, ermäßigte 13 Prozent für Grundnahrungsmittel, Energie, Hotels, Wasser und eine sogenannte superermäßigte Rate von sechs Prozent auf Dinge wie Arzneimittel, Bücher und Theatervorführungen - vielleicht ist das angemessen für ein Land, das in Sachen Drama Pionierarbeit geleistet hat. Die neuen Steuerstufen sind ab diesem Oktober gültig.
Darüber hinaus wird den Steuervergünstigungen für die bei Touristen beliebten Inseln des Landes weitgehend ein Ende bereitet: Nur die entferntesten Inseln sollen die begehrten finanziellen Erleichterungen behalten.
Für das Militär will Griechenland in diesem Jahr 100 Millionen Euro weniger ausgeben, diese Kürzung soll 2016 verdoppelt werden. Die Körperschaftssteuer wird von 26 auf 28 Prozent erhöht. Bauern werden ihre Steuervorzüge und Benzinsubventionen verlieren.
Die Regierung will deutlich härter gegen Steuerhinterzieher durchgreifen. Die wichtige Schiffsindustrie des Landes muss sich auf Steuererhöhungen für ihre Tonnage einstellen, die Steuervorteile für die Industrie an sich werden phasenweise zurückgefahren. Eine Luxussteuer wird auf Freizeitfahrzeuge mit einer Länge von mehr als fünf Metern ausgeweitet, die Rate steigt von zehn auf 13 Prozent.
Die Regierung erwägt Reformen, die dauerhafte Einsparungen von 0,25 bis 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr und ein Prozent ab 2016 bringen würden. Um dies zu erreichen, soll die Zahl der Frührentner sinken und das Renteneintrittsalter im Jahr 2022 auf 67 vereinheitlicht werden. Eine Ausnahme stellen besonders harte körperliche Arbeiten dar sowie Mütter, die Kinder mit Behinderungen großziehen.
Gesetzliche Renten werden zielgerichteter, während Zusatzversorgungskassen durch Arbeitnehmeranteile finanziert werden sollen. Sozialleistungen wie ein Solidaritätszuschlag laufen phasenweise aus. Krankenbeiträge für Rentner steigen im Durchschnitt von vier auf sechs Prozent. Weitere Reformen sollen anlaufen, um das Rentensystem nachhaltiger zu machen. Dazu soll eine Überholung der Rentenbeiträge für Selbstständige sein.
Die Behörden werden die Löhne von Staatsbediensteten umformen, um sicherzustellen, dass sie 2019 rückläufig sind und „den Fähigkeiten, Leistungen und Verantwortlichkeiten“ des Personals entsprechen. Leistungen wie bezahlten Urlaub und Reiseerlaubnisse werden an die EU-Normen angepasst.
Ein Plan ist auf dem Weg, demzufolge Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes leichter auf Posten eingesetzt werden können, auf denen sie gebraucht werden. Ende Juli soll zudem ein Strategiepapier zum Kampf gegen Korruption fertig sein. Gleichzeitig sollen neue Gesetze für mehr Transparenz bei der Finanzierung politischer Parteien sorgen. Ermittlungen wegen finanzieller Vergehen sollen vor politischer Einflussnahme geschützt werden.
Die Regierung will eine unabhängige Steueraufsicht einsetzen. Reformen zur Modernisierung der Steuererhebung, zur Verfolgung von Steuerbetrug sowie zum Kampf gegen Kraftstoffschmuggel sollen ebenfalls auf den Weg gebracht werden.
Korrekturen der Insolvenzgesetze sollen dafür sorgen, dass Schuldner ihre Verbindlichkeiten bezahlen. Berater werden in der Frage helfen, wie mit faulen Krediten umgegangen wird. Es werden außerdem Schritte ergriffen, um Investoren aus dem Ausland dazu zu bewegen, ihr Geld in griechische Banken fließen zu lassen.
Die Regierung will Beschränkungen für Berufsgruppen wie diejenigen von Ingenieuren, Notaren und Gerichtsvollziehern öffnen. Unnötige Bürokratie soll abgeschafft werden. Durch Gesetze soll es einfacher werden, Geschäftslizenzen zu bekommen. Auch der Gasmarkt soll reformiert werden.
Die linke Regierung will Staatseigentum verkaufen und eine Privatisierung des Stromversorgungskonzerns auf den Weg bringen. Auch regionale Flughäfen und Häfen wie jene in Piräus und Thessaloniki sollen möglicherweise privatisiert werden.
Doch dann, in den 48 Stunden nach dem Referendum, löste sich alle Spannung, alle Feindseligkeit, aller Chauvinismus für einen glücklichen Augenblick in Luft auf. Der überraschend eindeutige Sieg von Tsipras, die Rücktritte von Varoufakis und ND-Parteichef Andonis Samaras, die die neue Arroganz des Landes und seine alte Vetternwirtschaft personifizierten, schließlich die Bildung einer überparteilichen Koalition der frischen Gesichter im Hinblick auf die anstehenden Verhandlungen in Brüssel... - plötzlich waren sich alle Griechen einig in der Hoffnung, dass der kairos, der günstige, entscheidende Zeitpunkt zur Lösung all' ihrer Probleme, endlich gekommen sei.
Das entschiedene "Nein" zu den Vorschlägen der Euro-Gruppe war ein entschiedenes "Ja" zu Europa - unmöglich, dass Brüssel diese Botschaft missverstehen könne! Unmöglich, dass Angela Merkel diesem einigen Griechenland mit seinen seit fünf Jahren gebeutelten Herzenseuropäern seine Solidarität verweigern werde! Banken rekapitalisieren. Schulden strecken. Investitionsprogramme anschieben. Und im Gegenzug echte Reformen, versteht sich: Stabilität und Verlässlichkeit statt Stakkato der Fälligkeitstermine, ein Ende der Korruption statt Sparen am falschen Ende: Restart Greece!

Zum Beispiel Gregory Vallianatos, Parteichef der "Liberalen Allianz", schwuler Menschenrechtsaktivist, HIV-positiv - eine schillernde Figur in der politischen Landschaft Griechenlands. Vallianatos sitzt am späten Montagabend mit Parteifreunden im schicken Musique Café beisammen, dem Lieblingslokal von Alexis Tsipras im Athener Stadtteil Pangrati - und ist schier aus dem Häuschen. "Was Tsipras da auf den Weg bringt, ist entweder suizidal oder so revolutionär, dass es Griechenland für immer verändern wird", sagt Vallianatos.
Seine Logik: Tsipras ist mit seinem überwältigenden Sieg so populär und mächtig geworden, dass er gegen seinen Willen und gegen seine Überzeugungen viel schärfere Reformen durchsetzen kann als die, zu denen die Altparteien nie fähig waren. Ausgestattet mit einer Carte blanche seitens des Volkes und der Oppositionsparteien, könne er sich gar nicht leisten, mit keinem Verhandlungsergebnis aus Brüssel heimzukehren. Tsipras sei auf dem Weg zum großen Staatsmann. Das seien keine guten Nachrichten für Syriza und die radikale Linke. Aber das seien gute Nachrichten für Griechenland und Europa.