
Hektisch, sprunghaft und chaotisch: So präsentieren sich Brüssel und die Verhandlungsführer in der Schuldenkrise dieser Tage. Krisentreffen werden anberaumt, nur um nach wenigen Minuten ergebnislos beendet zu werden; mal wird eine Einigung im Schuldenstreit kolportiert, mal der „Grexit“.
Fakt ist: Auch die jüngste Runde der Verhandlungen zwischen Athen und seinen Gläubigern ist in der Nacht ohne greifbares Ergebnis zu Ende gegangen. Nach acht Stunden langen Gesprächen mit den Spitzen der Gläubiger brach Tsipras das Treffen ab. Der Internationale Währungsfonds beharrt dem Vernehmen nach auf zusätzlichen Haushaltskürzungen, Athen will die Auflagen von EU, EZB und IWF dagegen mit Steuererhöhungen erfüllen. Die Verhandlungen sollen am Donnerstagvormittag fortgesetzt werden. Im Laufe des Tages treffen sich dann auch die Euro-Finanzminister sowie die Staats- und Regierungschef der Europäischen Union in Brüssel – zu dem nächsten hektischen Verhandlungsmarathon.
Die von Athen vorgeschlagenen Sparmaßnahmen
Die griechische Regierung will bei den Verhandlungen mit den Geldgebern Athens durch Einsparungen und zusätzliche Einnahmen um Kürzungen bei Renten und Löhnen herumkommen. Zudem hofft Athen auf eine Umstrukturierung der Schulden und ein Investitionsprogramm. Dies verlautete aus Kreisen der Regierung in Athen. Die griechische Presse listete Maßnahmen zur Haushaltssanierung auf. Danach müssten die Griechen knapp acht Milliarden Euro sparen oder zusätzlich einnehmen.
Athen soll 2015 einen Primärüberschuss im Haushalt (Zinszahlungen und Tilgungen von Schulden werden dabei ausgeblendet) von einem Prozent und 2016 von zwei Prozent erzielen. Darauf haben sich die Staats- und Regierungschefs der Eurozone mit Athen laut Diplomatenkreisen bereits beim Sondergipfel geeinigt.
Künftig soll es drei Mehrwertsteuersätze geben: 6, 13 und 23 Prozent. Auf Energie, Wasser, Gastronomie entfällt weiterhin der mittlere Satz, während die Usamtzsteuer auf Medikamente und Bücher um 0,5 Prozent verringert wird. Die Institutionen forderten zwei Sätze (11 Prozent und 23 Prozent), wobei Medizin bei 11 und Energie, Wasser und Gastronomie bei 23 Prozent eingeordnet worden wäre.
Athen will die Einkommen von 12.000 bis 20.000 Euro mit 0,7 Prozent Sonder-Solidaritätssteuer belasten. Wer 20.001 bis 30.000 Euro (brutto) jährlich bezieht, soll 1,4 Prozent „Soli“ zahlen. Das geht stufenweise weiter bis zu acht Prozent für Einkommen über 500.000 Euro im Jahr.
Die Besitzer von Immobilien sollen weiter eine Sondersteuer zahlen, die dem Staat bis zu 2,7 Milliarden Euro bringen soll. Ursprünglich wollte die Regierung sie abschaffen.
Besitzer von Luxusautos, Privatflugzeugen und Jachten müssen mehr an den Fiskus zahlen.
2016 sollen Unternehmen mehr Steuern zahlen. Statt bisher 26 Prozent sollen 29 Prozent Unternehmensbesteuerung fällig werden. Zwölf Prozent Sondersteuer müssen alle Betriebe zahlen, die mehr als 500.000 Euro Gewinn machen.
Für Fernsehwerbung soll eine Sondersteuer erhoben werden. Private TV- und Radiosender sollen eine neue Lizenzsteuer zahlen. Zudem sollen elektronische Wetten besteuert werden.
Rüstungsausgaben sollen um 200 Millionen Euro gekürzt werden.
Die meisten Frührenten sollen stufenweise abgeschafft werden. Rentenkürzungen soll es nicht geben. Offen blieb, ob und wann die Regierung das Rentenalter auf 67 Jahre anheben wird.
Die Sozialbeiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollen erhöht werden. Das soll in den kommenden 18 Monaten knapp 1,2 Milliarden Euro in die Rentenkassen spülen. Versicherte sollen beim Kauf von Medikamenten stärker zur Kasse gebeten werden.
Die Regierung stimme begrenzten Privatisierungen zu, hieß es.
Athen schlägt den Angaben zufolge eine Umschichtung der Schulden im Volumen von 27 Milliarden Euro von der Europäischen Zentralbank (EZB) auf den Euro-Rettungsfonds ESM vor.
Athen hofft auf ein Investitionsprogramm der EU-Kommission und der Europäischen Investitionsbank.
Und in Athen? Dort ist die Stimmung erstaunlich ruhig. Es ist noch Frühstückszeit am Syntagma-Platz vor dem Parlament, doch am Metro-Ausgang verteilen junge Leute schon ihre Flugblätter für die Demo am Abend. Die Passanten, die den Aufgang hinauf stürzen, begrüßt ein fürchterlicher Lärm: Ein Lautsprecherwagen bellt politische Parolen wie eine Predigt über den Platz – so laut, dass nebenan im noblen Hotel Grande Bretagne wohl bald die ersten Neureichen vorzeitig auschecken werden. Der Prediger mit den angegrauten Schläfen, der neben einem weißen Ford Transit ins Mikro schreit, will seinen Namen nicht verraten. Er steht im Schatten und wird bis weit in den Nachmittag hinein wettern gegen Ungleichheit, die Reichen, die Troika. Alltag in Athen.
Genau wissen selbst die Einwohner von Athen nicht mehr, wer da gerade gegen wen protestiert. Heute ruft ein kommunistischer Gewerkschaftsverband zu einer Kundgebung am Abend auf, tags zuvor demonstrierten Zehntausende mit EU-Fahnen für einen Verbleib Griechenlands in der EU. Am Sonntag zuvor trieb es die Anhänger der populistischen Regierungspartei Syriza auf die Straßen, die zwar keine europäischen Fahnen schwenken, den Austritt aus dem Euroraum aber auch nicht wollen. Eigentlich wissen die wenigsten, was die eigentlich wirklich wollen. Längst hat die Realität der Euro-Rettungspolitik auch die Linken aus Tsipras' Partei so weit eingeholt zu haben, dass sich dessen Anhänger in diverse Lager spaltet. Ob Griechenlands Premier in der kommenden Woche wohl das Handtuch werfen wird?
Sei's drum. Athen wirkt in diesen Schicksalstagen, da über die Zukunft der Griechen dies- oder jenseits des Euroraums entschieden wird, merkwürdig normal. Nirgendwo in der Stadt sieht man Hamsterkäufe oder die Plünderung von Bankautomaten. An manchen Geldausgabestellen warten zwar ein paar Menschen, doch das dürften vor allem Touristen sein. Selbst in Vororten wie im Stadtteil Vrissillia ist nichts von einem „Bank Run“ zu spüren. Die Proteste indes gehören in Athen so sehr zum Stadtleben, dass kaum jemand mehr davon Notiz nimmt.