Von wegen Kopf-an-Kopf-Rennen: Das Ergebnis des griechischen Referendums über die Spar- und Reformpläne der internationalen Geldgeber ist deutlicher ausgegangen als in den Vortagen prognostiziert. Das Votum ist eindeutig. In allen 55 Provinzen des Landes haben die Griechen mehrheitlich mit „Oxi“, also „Nein“, gestimmt. Insgesamt votierten 61,31 Prozent der Hellenen gegen den vorgeschlagenen Deal der Eurogruppe; 38,69 Prozent stimmten für eine Annahme des Brüsseler Angebots.
Unmittelbar nach den ersten Hochrechnungen am Sonntagabend machten sich Tausende Athener auf dem Weg zum Syntagma-Platz vor dem Parlament – um den vermeintlichen Sieg zu feiern. Die Griechen schlugen im wahrsten Sinne des Wortes auf die Pauke, johlten, tanzten und zündeten Bengalos. Szenen, die an den Sommer 2004 erinnern, als Griechenland mit Trainer Otto Rehhagel sensationell die Fußball-Europameisterschaft gewann. Damals freuten sich die Europäer mit den Griechen, mit Ausnahme der im Finale unterlegenen Portugiesen. Heute aber schaut Europa verstört auf die Bilder der jubelnden Griechen aus Athen. Irritiert fragten sich Deutsche, Finnen und Niederländer, was Griechenland da eigentlich feiert?
So lustig, wenn es nicht sooo traurig werden. #Grexit RT @FranzNestler: Die Stimmung wird quasi minütlich besser https://t.co/dk1EC6VTTx
— Tim Rahmann (@timrahmann) 5. Juli 2015
Die Antwort lieferte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras in der Nacht in einer TV-Ansprache. Unter den schwierigsten Umständen habe das Land bewiesen, dass sich die "Demokratie nicht erpressen lässt". Griechenland feiere "einen Sieg der Demokratie". Tsipras betonte - wie schon vor dem Referendum -, dass das "Nein" die Verhandlungsposition der Regierung in Brüssel stärken und die Unterdrückung des griechischen Volkes beende werde. Denkste! Dieses Versprechen wird sich als glatte Lüge herausstellen. Ohne der Zustimmung zu harten Einsparungen und Reformen kann und wird Europa mit Griechenland keinen neuen Deal abschließen. Das hatten mehrere europäische Spitzenpolitiker vorab klagemacht, und haben dies kurz nach dem Referendum erneut bekräftigt. Der Ausgang des Referendums sei "sehr bedauerlich für die Zukunft der Griechen", sagte der niederländische Finanzminister und Chef der Eurogruppe Jeroen Dijsselbloem. Vizekanzler Sigmar Gabriel warf Tsipras vor, die letzten Brücken zu einem Kompromiss abgebrochen zu haben. Neue Verhandlungen über ein milliardenschweres Hilfspaket seien "schwer vorstellbar", sagte der SPD-Politiker dem „Tagesspiegel“.
Stimmen rund ums Referendum
„Man kann den Willen einer Regierung ignorieren, aber nicht den Willen eines Volkes.“
„Wir Griechen entscheiden heute über das Schicksal unseres Landes. Wir sagen ja zu Griechenland und ja zu Europa.“
„Was man mit Griechenland macht, hat einen Namen: Terrorismus.“
„Das Szenario einer Kürzung von Bankguthaben gehört in den Bereich der Fantasie.“
Zwei Gründe sind für die harte Haltung Europas maßgeblich: Erstens gibt es keine politischen Mehrheiten für ein drittes Hilfspaket in fast allen 19 Euro-Staaten. Selbst wenn die Bundesregierung – gegen den Willen der großen Mehrheit des Volkes – ein drittes Reformpaket durchs Parlament bringen würde; in Österreich, Finnland, Litauen und Spanien scheint eine Zustimmung unwahrscheinlich.
Zweitens: Europa würde sich und seinen eigenen Regeln der Lächerlichkeit preisgeben, wenn es den Griechen erneut entgegenkommt. Wie kann Brüssel dann noch Reformen von Spanien, Portugal, Italien oder Frankreich einfordern? Besonders bedrohlich ist dieses Szenario für Spanien. Im Herbst wird dort ein neues Parlament gewählt. Ein Einknicken gegenüber Griechenlands könnte die konservative Regierung stürzen und die (erfolgreiche!) Reformpolitik jäh beenden.
Regeln müssen für alle gelten. Ein Rabatt aufgrund des #Grefenderum würde Europa für alle Zeit erpressbar machen. CL #Grexit #Eurozone
— Christian Lindner (@c_lindner) 5. Juli 2015
Nein, Europa und die EZB müssen nun handeln: Für weitere Gespräche gibt es keinen Spielraum, zu eindeutig ist das Votum der Griechen. Der Grexit muss nun vollzogen werden. Das ist offenbar auch den Euro-Politikern klar: Laut „stern“-Informationen ist die Eurogruppe schon in dieser Woche bereit, Verhandlungen über einen Vertrag über den Austritt Griechenlands aus der Währungsunion aufzunehmen. Das Problem: Griechenland müsste einem Grexit zustimmen.
Die EZB wird zum entscheidenden Akteur
Sollte sich Griechenland weigern oder die Eurogruppe diese Entscheidung vor sich hinschieben, wird die Europäische Zentralbank handeln müssen. In Teilen schon am Montag, spätestens in zwei Wochen. Am 20. Juli muss Griechenland Kredite über 3,5 Milliarden Euro an die Notenbank zurückzahlen. Schon für fällige IWF-Kredite über 1,6 Milliarden Euro in der vergangenen Woche hatte Athen kein Geld.
Während der Internationale Währungsfond nun erst einmal eine Zahlungserinnerung verschickte, darf die EZB laut dem EU-Vertrag keinen Aufschub gewähren. Ein Zahlungsausfall müsste konsequenterweise als Insolvenz des Landes gewertet werden. Die Folge: Die EZB müsste sofort die Nothilfen für die maroden griechischen Banken stoppen, die die Zentralbank des Landes ihnen zugesichert hat (Ela-Kredite). Die griechischen Banken, die schon aus den letzten Löchern pfeifen, müssten auf einen Schlag fast 90 Milliarden Euro zurückzahlen. Unvorstellbar. Sie würde in die Pleite rutschen – und Griechenland endgültig ins Chaos.
Am Montagmorgen will sich das Direktorium der EZB treffen und über eine Anfrage Griechenlands zur Erhöhung der Notkredite um sechs Milliarden Euro beraten. Stimmen die Notenbanker dem Antrag zu, könnten die Banken ab Dienstag wieder öffnen – zumindest bis zum 20. Juli. Senken die EZB-Herren den Daumen, könnte alles ganz schnell gehen.
An Griechenland hängt mehr als nur der Euro
Seit Wochen betonen die Euro-Partner, dass die Ansteckungsgefahr nach einem Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone eher gering wäre. Zum einen wird darauf verwiesen, dass sich heute fast alle griechischen Schulden bis auf 40 bis 50 Milliarden Euro in der öffentlichen Hand befinden - eine Kettenreaktion kollabierender Banken also nicht zu befürchten sei. Zum anderen hätten sich Gläubiger seit langem auf mögliche Probleme eingestellt und ihre griechischen Geschäfte reduziert.
Alles falsch, meint Schulz und verweist darauf, dass die Risikoaufschläge etwa für spanische Staatsanleihen in den vergangenen Wochen erheblich gestiegen seien. Kommt ein Staatsbankrott, würde der möglicherweise einen Schuldenschnitt nach sich ziehen - mit erheblichen Belastungen für die klammen Haushalte etwa der südlichen EU-Staaten, aber auch Frankreichs.
Außerdem könnte das Vertrauen in den Euro als Währung weltweit Schaden nehmen, wenn eines der 19 Mitglieder ausbreche, heißt es in der Bundesregierung. Dabei spiele keine große Rolle, dass Griechenland weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Währungszone beisteuere. Denn die angebliche Unumkehrbarkeit der Euro-Einführung wäre widerlegt.
In Berlin fürchtet man aber auch, dass ein Kollaps Griechenlands den Befürwortern eines britischen Austritts aus der EU Auftrieb geben könnte. Europa droht also an seinen Rändern zu zerfasern. Der Grund ist einfach: Die EU wäre nach einem Ausstieg Athens wahrscheinlich in einem so desolaten Zustand und müsste so viel kurzatmige Rettungsaktionen für Griechenland starten, dass die Gemeinschaft auf britische Wähler kaum noch attraktiv wirken dürfte. Möglicherweise würden zudem mehr Griechen das eigene Land auch Richtung Großbritannien verlassen wollen. Die Briten schimpfen aber bereits jetzt über zu viele Migranten aus anderen EU-Ländern - dies ist einer der Kritikpunkte der EU-Gegner auf der Insel.
Griechenland ist nicht nur ein angeschlagener Euro-Staat, sondern auch ein schwieriger EU-Partner. Mit seiner Linksaußen- Rechtsaußen-Regierung betonte Ministerpräsident Alexis Tsipras politische Nähe zum Kreml und hat sich mehrfach mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin getroffen. In der EU gibt man sich zwar gelassen, dass Russland nicht als alternativer Geldgeber gegen die EU ausgespielt werden kann - dafür sind die nötigen Hilfssummen viel zu groß. Auch die Träume des Links-Politikers, dass Griechenland Verteilland für russisches Gas in der EU werden könnte, dürften sich angesichts des Vorgehens der EU-Kommission gegen den russischen Gasriesen Gazprom zerschlagen. Aber Putin hat nach Ansicht von EU-Diplomaten durchaus schon bewiesen, dass er Differenzen zwischen EU-Staaten ausnutzen kann. Bei der Verlängerung von EU-Sanktionen gegen Russland braucht es etwa auch die Zustimmung Griechenlands.
In Berlin sorgt man sich zunehmend, dass die gesamte Balkan-Region ohnehin sehr instabil werden kann. Immer noch gärt der Namensstreit zwischen Griechenland mit dem EU-Beitrittsaspiranten Mazedonien - in dem ein heftiger innenpolitischer Machtkampf tobt. Und Geheimdienste warnen, dass die radikalislamische Miliz Islamischer Staat (IS) in den vergangenen Monaten massiv versucht hat, in den moslemischen Bevölkerungen Bosnien-Herzegowinas, Albaniens oder Mazedoniens Fuß zu fassen. Ein zusammenbrechender Nachbarstaat Griechenland würde die Unruhe in der Region noch verstärken.
Kaum diskutiert worden ist die Rolle Griechenlands bei der Abwehr eines unkontrollierten Zuzugs von Flüchtlingen in die EU. In den vergangenen Jahren hat der bessere Schutz der griechisch-türkischen Grenze Flüchtlingen aus dem Nahen Osten die Einwanderung in die EU zumindest zum Teil erschwert. Die linke Syriza-Partei könnte im Falle eines Staatsbankrotts die Schleusen für afrikanische oder syrische Flüchtlinge aufmachen. Entsprechende Drohungen waren aus Athen bereits zu hören. Denn seit Jahresbeginn seien bereits 46.000 Flüchtlinge nach Griechenland gekommen, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit. 2014 waren es im selben Zeitraum nur 34.000 Personen. Die Vereinten Nationen warnen bereits vor einer Flüchtlingskatastrophe in Griechenland.
EU-Kommissar Günther Oettinger forderte die Brüsseler Behörde auch deshalb auf, einen "Plan B" zu erarbeiten. Dabei soll Hilfe für das Land für den Fall eines Bankrotts vorbereitet werden. Neben humanitärer Hilfe gehe es um die Frage, wie man eigentlich die Sicherheit in dem EU-Land noch gewährleisten will, wenn die Regierung den Polizisten keine Löhne mehr zahlen kann.
Was feiern die Griechen also? Ihre zurückgewonnene Selbstachtung? Den "Sieg der Demokratie", wie Tsipras behauptete? Oder die Ablehnung eines „deutschen Europas“? Was es auch sein mag: Nach der Party vom Sonntag wird der Kater vom Montag folgen. Für Griechenland wird es nicht leichter. Im Gegenteil. Kommt der Grexit, "wird die griechische Wirtschaft "in eine noch tiefere Depression abgleiten", prognostiziert DIW-Chef Marcel Fratzscher. Die Arbeitslosigkeit werde weiter steigen, soziale Verwerfungen würden sich verstärken. Ein Grund: Die Importe – Gas, Medikamente, Benzin – werden sich drastisch verteuern. Die Europäische Union, nicht mehr nur die Eurogruppe, wird aufgerufen sein, das Leid so gut es geht zu lindern. Griechenland wird humanitäre Hilfe brauchen.
Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande wollen bereits am Montag in Paris über die Konsequenzen des griechischen Referendums beraten, am Dienstagabend kommen die 19 Staats- und Regierungschefs der Eurozone zu einem Gipfeltreffen zusammen.
Das sagen Analysten zur Lage Griechenlands
"Letztendlich entscheidet das Referendum am Sonntag darüber, ob Griechenland in der Währungsunion bleibt. Wenn sich die Griechen dafür aussprechen, kann die Staatengemeinschaft ein solch demokratisches Votum nicht übergehen. Dann werden die Verhandlungen wieder aufgenommen. Bei einem negativen Votum kommt es dagegen zum Grexit. (...) Bis dahin tobt ein Nervenkrieg. Die Kapitalverkehrskontrollen reichen zunächst erst einmal aus, um das Schlimmste zu verhindern. Aber die Kontrollen behindern die Wirtschaft, ebenso wie die von der Syriza geschaffene Unsicherheit. Das ist wirtschaftlich ein verlorenes Jahr für Griechenland. Für Deutschland spielt das keine Rolle. Nicht einmal ein Prozent der deutschen Exporte gehen dorthin."
„Natürlich wird der Dax zunächst leiden, aber fundamental ist die Wirtschaft in Takt (...) Der Rückschlag wird nicht von Dauer sein."
"Für Griechenland wird es jetzt ganz schwierig. Europa versucht, den Schaden für andere Euro-Länder zu begrenzen. Das wird mit großer Wahrscheinlichkeit gelingen. Die EZB hat bereits erklärt, dass sie die Lage an den Finanzmärkten genau verfolgt und notfalls eingreifen wird. Bei größeren Turbulenzen, die der Konjunktur gefährlich werden könnten, könnte die EZB ihre Anleihekäufe zeitlich nach vorne ziehen oder aufstocken. Sie könnte auch Anleihen bestimmter Länder wie Spanien und Italien früher kaufen. Sie könnte noch deutlicher darauf verweisen, dass es das ultimative Sicherheitsprogramm - das sogenannte OMT-Programm - auch noch gibt."
"Mit einer solchen Wendung haben nur wenige gerechnet. Kapitalverkehrskontrollen, vor allem aber die hohe Unsicherheit der kommenden Wochen und Monate dürften die letzte Hoffnung auf eine wirtschaftliche Erholung in Griechenland zunichte machen. Ein Staatsbankrott Griechenlands bedeutet nicht automatisch Grexit. Im besten Fall könnten die Entwicklungen dieser Tage nun dazu führen, dass Europa einen Insolvenzmechanismus für Staaten entwickelt - ganz so, wie die erste Griechenlandkrise vor fünf Jahren zu einem Rettungsmechanismus für Staaten führte. Spannend bleibt, ob und wie andere populistische Kräfte in Europa von den Entwicklungen profitieren. Die Polarisierung zwischen etabliertem Lager und Populisten dürfte in den kommenden Monaten weiter steigen."
"Weder der Grexit noch die Staatspleite sind zwingend. Es hängt sehr davon ab, wie das Referendum ausgeht. Wenn es zu einer Ablehnung kommt, wäre Griechenland auf schiefer Ebene unterwegs in Richtung Euro-Abschied. Die EZB hat die Kapitalverkehrskontrollen praktisch erzwungen, indem sie die Notfallkredite an griechische Banken nicht weiter erhöht hat. Wenn die EZB sie wieder aufstockt nach einem positiven Votum der Griechen, dann wären sie in diesem Umfang nicht mehr notwendig. Die Folgen für die Wirtschaft sind sehr negativ. Durch die Kapitalverkehrskontrollen werden die Geschäfte von Unternehmen und deren Abwicklung über die Banken behindert. Das dürfte die Konjunktur weiter beschädigen.
Die direkten Folgen für die Wirtschaft in der Euro-Zone und Deutschland dürften begrenzt sein - Griechenland ist zu klein, die Handelsverflechtungen zu gering. Man muss aber abwarten, wie stark die Marktturbulenzen sein werden. Denn die könnten auf die Realwirtschaft durchschlagen."
Apropos Euro-Zone: Die Währungsunion wird nach dem "Nein" der Griechen gegen die Zweifel der Investoren auf den Finanzmärkten kämpfen müssen. Doch die Euro-Retter sind vorbereitet, die EZB kann sich mit unbegrenzten Mitteln gegen mögliche Domino-Effekte stemmen. Das OMT-Urteil des Europäischen Gerichtshof – dieser erlaubte den gezielten Aufkauf von Staatsanleihen von Krisenländern – kam vor zwei Wochen gerade recht. Langfristig könnte die Euro-Zone vom Griechen-Aus profitieren, indem sie die Botschaft verkauft: Wir wollen solide sein. Wir halten Regeln ein.
Der Euro wird den Grexit verkraften, die europäischen Volkswirtschaften sowieso. Sich darüber in diesen Stunden zu freuen, verbietet der Respekt vor den Griechen, trotz der skurrilen Feierlichkeiten auf dem Syntagma-Platz. Denn auf Griechenland kommen schwere Stunden zu.
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