




Unsere Fehlschläge sind lehrreicher als unsere Erfolge, sagte schon Henry Ford. Die politischen Eliten der Europäischen Union werden derzeit mit lehrreichem Scheitern reich bedacht. Die größte Gefahr für Europa wäre, wenn sie weiter nach der Devise des letzten deutschen Kaisers verfahren: „Der Kurs bleibt der alte, nun Volldampf voraus!“
Denn das endgültige Scheitern der Bemühungen um Griechenlands Verbleib in der Eurozone macht klar, dass das europäische Einigungswerk einer deutlichen Kurskorrektur bedarf. Und womöglich auch einer Korrektur der Geschwindigkeit.
Warum ist es so weit gekommen? Weil der Maastrichter Vertrag nicht nur eine mangelhafte Konstruktion, sondern in sich selbst ein illusionäres Unterfangen ist.
Zunächst eine eigentlich banale aber in der europäischen Einigungsbewegung standhaft ignorierte Tatsache: Verträge zwischen souveränen Staaten haben einen völlig anderen juristischen Charakter als zivilrechtliche Verträge. Es fehlt die Justiz, die für die Einhaltung der Paragrafen sorgt und Übertretungen bestraft. Es gibt kein Gericht, vor dem die EU-Kommission, der Internationale Währungsfonds und die Europäische Zentralbank Griechenland wegen des Bruchs der Defizitkriterien anklagen können. Und erst recht gibt es keinen Karzer für vertragsbrüchige Mitgliedsstaaten.
An Griechenland hängt mehr als nur der Euro
Seit Wochen betonen die Euro-Partner, dass die Ansteckungsgefahr nach einem Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone eher gering wäre. Zum einen wird darauf verwiesen, dass sich heute fast alle griechischen Schulden bis auf 40 bis 50 Milliarden Euro in der öffentlichen Hand befinden - eine Kettenreaktion kollabierender Banken also nicht zu befürchten sei. Zum anderen hätten sich Gläubiger seit langem auf mögliche Probleme eingestellt und ihre griechischen Geschäfte reduziert.
Alles falsch, meint Schulz und verweist darauf, dass die Risikoaufschläge etwa für spanische Staatsanleihen in den vergangenen Wochen erheblich gestiegen seien. Kommt ein Staatsbankrott, würde der möglicherweise einen Schuldenschnitt nach sich ziehen - mit erheblichen Belastungen für die klammen Haushalte etwa der südlichen EU-Staaten, aber auch Frankreichs.
Außerdem könnte das Vertrauen in den Euro als Währung weltweit Schaden nehmen, wenn eines der 19 Mitglieder ausbreche, heißt es in der Bundesregierung. Dabei spiele keine große Rolle, dass Griechenland weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Währungszone beisteuere. Denn die angebliche Unumkehrbarkeit der Euro-Einführung wäre widerlegt.
In Berlin fürchtet man aber auch, dass ein Kollaps Griechenlands den Befürwortern eines britischen Austritts aus der EU Auftrieb geben könnte. Europa droht also an seinen Rändern zu zerfasern. Der Grund ist einfach: Die EU wäre nach einem Ausstieg Athens wahrscheinlich in einem so desolaten Zustand und müsste so viel kurzatmige Rettungsaktionen für Griechenland starten, dass die Gemeinschaft auf britische Wähler kaum noch attraktiv wirken dürfte. Möglicherweise würden zudem mehr Griechen das eigene Land auch Richtung Großbritannien verlassen wollen. Die Briten schimpfen aber bereits jetzt über zu viele Migranten aus anderen EU-Ländern - dies ist einer der Kritikpunkte der EU-Gegner auf der Insel.
Griechenland ist nicht nur ein angeschlagener Euro-Staat, sondern auch ein schwieriger EU-Partner. Mit seiner Linksaußen- Rechtsaußen-Regierung betonte Ministerpräsident Alexis Tsipras politische Nähe zum Kreml und hat sich mehrfach mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin getroffen. In der EU gibt man sich zwar gelassen, dass Russland nicht als alternativer Geldgeber gegen die EU ausgespielt werden kann - dafür sind die nötigen Hilfssummen viel zu groß. Auch die Träume des Links-Politikers, dass Griechenland Verteilland für russisches Gas in der EU werden könnte, dürften sich angesichts des Vorgehens der EU-Kommission gegen den russischen Gasriesen Gazprom zerschlagen. Aber Putin hat nach Ansicht von EU-Diplomaten durchaus schon bewiesen, dass er Differenzen zwischen EU-Staaten ausnutzen kann. Bei der Verlängerung von EU-Sanktionen gegen Russland braucht es etwa auch die Zustimmung Griechenlands.
In Berlin sorgt man sich zunehmend, dass die gesamte Balkan-Region ohnehin sehr instabil werden kann. Immer noch gärt der Namensstreit zwischen Griechenland mit dem EU-Beitrittsaspiranten Mazedonien - in dem ein heftiger innenpolitischer Machtkampf tobt. Und Geheimdienste warnen, dass die radikalislamische Miliz Islamischer Staat (IS) in den vergangenen Monaten massiv versucht hat, in den moslemischen Bevölkerungen Bosnien-Herzegowinas, Albaniens oder Mazedoniens Fuß zu fassen. Ein zusammenbrechender Nachbarstaat Griechenland würde die Unruhe in der Region noch verstärken.
Kaum diskutiert worden ist die Rolle Griechenlands bei der Abwehr eines unkontrollierten Zuzugs von Flüchtlingen in die EU. In den vergangenen Jahren hat der bessere Schutz der griechisch-türkischen Grenze Flüchtlingen aus dem Nahen Osten die Einwanderung in die EU zumindest zum Teil erschwert. Die linke Syriza-Partei könnte im Falle eines Staatsbankrotts die Schleusen für afrikanische oder syrische Flüchtlinge aufmachen. Entsprechende Drohungen waren aus Athen bereits zu hören. Denn seit Jahresbeginn seien bereits 46.000 Flüchtlinge nach Griechenland gekommen, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit. 2014 waren es im selben Zeitraum nur 34.000 Personen. Die Vereinten Nationen warnen bereits vor einer Flüchtlingskatastrophe in Griechenland.
EU-Kommissar Günther Oettinger forderte die Brüsseler Behörde auch deshalb auf, einen "Plan B" zu erarbeiten. Dabei soll Hilfe für das Land für den Fall eines Bankrotts vorbereitet werden. Neben humanitärer Hilfe gehe es um die Frage, wie man eigentlich die Sicherheit in dem EU-Land noch gewährleisten will, wenn die Regierung den Polizisten keine Löhne mehr zahlen kann.
Das im Vertrag vorgesehene Defizitverfahren entpuppte sich sofort als Papiertiger, als Deutschland und Frankreich die Kriterien kurz nach der Einführung des Euro verletzten. Und außerdem: Selbst wenn es eine Möglichkeit gäbe, Sanktionen also Geldstrafen durchzusetzen, sind diese unsinnig, weil sie das Problem, um das es geht, verschärfen. Die Sünde des Sünders besteht darin, dass er nicht genug Geld hat. Und dafür soll er eine Geldstrafe zahlen? Diese Sanktionen sind ein Witz. De facto läuft es – bislang – umgekehrt: Der vertragsbrüchige Staat, der schließlich kein Verbrechen begangen hat, sondern eine fiskalische Vorgabe nicht erfüllen wollte oder konnte, erhielt keine Strafe, sondern Hilfe. Bis den Helfern jetzt der Kragen platzte.
Die Währungsunion zeigt, dass auch im sich vereinenden Europa die uralte Wahrheit bestehen bleibt: Souveräne Staaten halten sich nur so lange an internationale Verträge, wie deren Klauseln ihren Interessen und Handlungsmustern entsprechen. Wenn sie das nicht mehr tun, wird der Vertrag wertlos. Kluge Staatsmänner und Diplomaten schließen daher nur internationale Verträge mit anderen Staaten, die dasselbe Interesse an der Einhaltung der Verträge haben wie der eigene Staat. Solch ein Bündnis, solch eine Union braucht keinen Richter und kein „Defizitverfahren“, das ohnehin nicht durchsetzbar ist. Die Einzelstaaten verfolgen das gemeinsame Ziel, nicht weil es in einem Vertragstext steht, sondern weil es ihren grundlegenden Interessen und Überzeugungen oder Traditionen entspricht.
Eine stabile Währung ist für Deutschland, Österreich, die Niederlande und Finnland solch ein Ziel. Aber nicht für Griechenland und andere südeuropäische Länder. Das heißt nicht, dass die einen besser und die anderen „Defizitsünder“ sind. Griechenland hat seit 1822 zahlreiche Staatsbankrotte erlebt und als Nation überlebt. Diese Erfahrungen waren für das griechische Kollektivgedächtnis sehr viel weniger traumatisierend als die große Inflation von 1923 für die Deutschen.