
Es ist kein Jahr her, da wollte Gabriel Sakellaridis Athen einnehmen. Der damals 33-jährige Syriza-Politiker trat zur Wahl des Bürgermeisters an und verlor gegen den Gemäßigten Giorgos Kaminis. Jetzt aber könnte es mit dem Sturm auf Athen doch noch klappen: Sakellaridis ist mittlerweile nicht nur 34, sondern auch Regierungssprecher von Alexis Tsipras – und er hat einen Spezialauftrag von seinem Chef: Er soll vor allem die Athener mobilisieren, bei einem möglichen Referendum am Sonntag nicht nur abzustimmen, sondern auch für die Syriza-Position, also gegen Europa, zu votieren. Und Sakellaridis macht seinem Ruf als Lautsprecher alle Ehre: Er polemisiert, er lockt, er lärmt.
Kurz: Er gebärdet sich, wie es zum allgemeinen Erscheinungsbild seiner Partei passt. Alle Macht in Griechenland gehört seit Januar der linken Regierungspartei Syriza, deren Politiker zu Populismus und Utopien neigen. Sie glauben an die ultimative Lösungskompetenz des Staates, misstrauen Unternehmern und locken das einfache Volk mit Forderungen nach Sozialleistungen. In der Europapolitik steht die Partei für eine beinahe sozialistische Interpretation des Solidaritätsgedankens der Europäischen Union: Man fordert die Angleichung der Lebensverhältnisse, indem schwächere Länder das Geld der Stärkeren in ihre Realwirtschaft pumpen – damit am Ende angeblich alle profitieren.





Die griechischen Wähler sind begeistert: Trotz der durch den nicht abgelösten IWF-Kredit am Dienstag offensichtlich gewordenen Zahlungsunfähigkeit und einiger Pro-Europa-Demonstranten in Athen, steht die Mehrheit im Land vorerst zur Führung, die es gewählt hat. Die Syriza-Bewegung mit Tsipras an der Spitze nährt die Illusion, Griechenland könne sich mithilfe der Kredite vom Rest Europas ohne Strukturreformen bis zur Wettbewerbsfähigkeit durchmogeln. Und glaubt derweil eisern daran, die Europäer würden irgendwann nachgeben, weil auch in der EU niemand das Euro-Aus der Griechen wolle, schon wegen der Ansteckungsgefahr für andere.
Populismus?
Da winken sie ab, die Mitglieder und Funktionäre von Syriza. Populistisch sei man nicht. Man habe eine Mission, erklären sie und meinen das ernst. Es gehe nicht um Griechenland, sondern um die Zukunft Europas, sagt die Syriza-Abgeordnete Hara Kafantari: „Wir müssen die Vorherrschaft der Neoliberalen in der EU beenden. Wenn die schädliche Austeritätspolitik nicht endet, wird sie Europa zerstören.“
Die von Athen vorgeschlagenen Sparmaßnahmen
Die griechische Regierung will bei den Verhandlungen mit den Geldgebern Athens durch Einsparungen und zusätzliche Einnahmen um Kürzungen bei Renten und Löhnen herumkommen. Zudem hofft Athen auf eine Umstrukturierung der Schulden und ein Investitionsprogramm. Dies verlautete aus Kreisen der Regierung in Athen. Die griechische Presse listete Maßnahmen zur Haushaltssanierung auf. Danach müssten die Griechen knapp acht Milliarden Euro sparen oder zusätzlich einnehmen.
Athen soll 2015 einen Primärüberschuss im Haushalt (Zinszahlungen und Tilgungen von Schulden werden dabei ausgeblendet) von einem Prozent und 2016 von zwei Prozent erzielen. Darauf haben sich die Staats- und Regierungschefs der Eurozone mit Athen laut Diplomatenkreisen bereits beim Sondergipfel geeinigt.
Künftig soll es drei Mehrwertsteuersätze geben: 6, 13 und 23 Prozent. Auf Energie, Wasser, Gastronomie entfällt weiterhin der mittlere Satz, während die Usamtzsteuer auf Medikamente und Bücher um 0,5 Prozent verringert wird. Die Institutionen forderten zwei Sätze (11 Prozent und 23 Prozent), wobei Medizin bei 11 und Energie, Wasser und Gastronomie bei 23 Prozent eingeordnet worden wäre.
Athen will die Einkommen von 12.000 bis 20.000 Euro mit 0,7 Prozent Sonder-Solidaritätssteuer belasten. Wer 20.001 bis 30.000 Euro (brutto) jährlich bezieht, soll 1,4 Prozent „Soli“ zahlen. Das geht stufenweise weiter bis zu acht Prozent für Einkommen über 500.000 Euro im Jahr.
Die Besitzer von Immobilien sollen weiter eine Sondersteuer zahlen, die dem Staat bis zu 2,7 Milliarden Euro bringen soll. Ursprünglich wollte die Regierung sie abschaffen.
Besitzer von Luxusautos, Privatflugzeugen und Jachten müssen mehr an den Fiskus zahlen.
2016 sollen Unternehmen mehr Steuern zahlen. Statt bisher 26 Prozent sollen 29 Prozent Unternehmensbesteuerung fällig werden. Zwölf Prozent Sondersteuer müssen alle Betriebe zahlen, die mehr als 500.000 Euro Gewinn machen.
Für Fernsehwerbung soll eine Sondersteuer erhoben werden. Private TV- und Radiosender sollen eine neue Lizenzsteuer zahlen. Zudem sollen elektronische Wetten besteuert werden.
Rüstungsausgaben sollen um 200 Millionen Euro gekürzt werden.
Die meisten Frührenten sollen stufenweise abgeschafft werden. Rentenkürzungen soll es nicht geben. Offen blieb, ob und wann die Regierung das Rentenalter auf 67 Jahre anheben wird.
Die Sozialbeiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber sollen erhöht werden. Das soll in den kommenden 18 Monaten knapp 1,2 Milliarden Euro in die Rentenkassen spülen. Versicherte sollen beim Kauf von Medikamenten stärker zur Kasse gebeten werden.
Die Regierung stimme begrenzten Privatisierungen zu, hieß es.
Athen schlägt den Angaben zufolge eine Umschichtung der Schulden im Volumen von 27 Milliarden Euro von der Europäischen Zentralbank (EZB) auf den Euro-Rettungsfonds ESM vor.
Athen hofft auf ein Investitionsprogramm der EU-Kommission und der Europäischen Investitionsbank.
Die Syriza-Bewegung wirkt wie die Studenten-Fachschaft von Soziologen, die mit dem Examen im Verzug sind. Hier tummeln sich Anarchisten, Kommunisten, Etatisten, Euro-Gegner, Abtrünnige der linken Pasok-Partei. Insgesamt eine Menge linker Idealisten.
Im eigentlichen Sinne ist Syriza keine Partei , sondern ein loses Bündnis von Linksrevolutionären, die tatsächlich etwas verändern wollen, nicht einfach nur an die Macht kommen wollten, um an der Macht zu sein.
Und so war es nach dem Wahltriumph vom Januar nur eine Frage von Wochen, bis sich Strömungen bildeten und sich zentrifugale Kräfte in Bewegung setzten.
Tsipras hätte die Partei rasch in die Mitte führen können, damit sie eine handlungsfähige Regierung mit realistischer Politik stützen kann, glaubt der Athener Politikwissenschaftler Dimitris Keridis. „Aber er war überhastet, unerfahren, unvorbereitet und hat sich zu sehr am eigenen Triumph erfreut.“





Stattdessen ging es also drunter und drüber innerhalb dieser Patchwork-Partei. Geschichten über Machtspielchen kursierten und kursieren immer wieder. Mal sollte der Stuhl von Regierungschef Tsipras intern wackeln, mal jener von Finanzminister Yanis Varoufakis. Und die „linke Plattform“ um den Kommunisten Panagiotis Lafazanis lag mit den „Theoretikern“ um den Finanzminister im Clinch.
Langsam bildete sich eine Front gegen die Moderaten, zu denen anfangs auch Tsipras zählte, denn der verhandelte ja und opponierte nicht bloß. Seit er sich auf die Seite der Radikalen schlug, ist das Lager der Realisten aber in Auflösung. Nur wenigen Einzelfiguren dämmert es, dass das Chaos sie alle den Posten kosten könnte. Einer davon ist Giannis Dragasakis. Der ist Ökonom und als Vize-Regierungschef für Wirtschaft und Finanzen zuständig. Er versteht die komplexen Zusammenhänge und drängt Tsipras zur Absage des Plebiszits.
Er ist aber nun Außenseiter. Seit Tsipras am vergangenen Wochenende nachts per Fernsehen das Referendum ankündigte, sind die Flügelkämpfe befriedet – zumindest vorerst.
Kurs der radikalen Linken
Mitte der Woche sitzt eine Beraterin des Regierungschefs in einem Café im Stadtteil Kolonaki und stellt zufrieden fest: „Im Moment gibt es keine Strömungen mehr.“ Tsipras sei es mit seinem Schwenk auf den Kurs der radikalen Linken gelungen, die Partei zu einen. War es also das, was Alexis Tsipras mit dem Ausstieg aus den Verhandlungen bezweckte? Eine gespaltene Partei zu vereinen?
Wie schafft es eine solche Strömung, in die Mitte der Gesellschaft zu gelangen? Vielleicht, weil die Mitte der Gesellschaft sich mittlerweile darstellt wie in Perama, einem Arbeiterviertel außerhalb von Athen. Jeder spürt hier die aufgestaute Frustration in den Straßen und Cafés. So wie bei Tarros, einem braun gebrannten Vorarbeiter am Bau: „Die jungen Männer hier arbeiten zwölf Stunden am Tag und verdienen trotzdem nur 300 Euro im Monat“, schimpft er. Wenn sie überhaupt Arbeit bekommen. Er selbst sei ein Jahr auf der Suche gewesen, ehe er im Januar einen Job gefunden habe. Der Mann will die Drachme zurück, sagt er: „Unsere wirtschaftliche Lage war viel besser, als wir den Euro noch nicht hatten.“





Man findet in den Straßen von Perama schwerlich jemanden, der für ein Sparpaket stimmen würde. Stattdessen sprechen sie von Würde, die die linke Regierung den Griechen zurückgegeben habe. Wie weit die Gläubiger den Unterhändlern in den Verhandlungen entgegengekommen sind, weiß hier keiner. Nur die einfachen Botschaften der Syriza dringen durch.
Deswegen herrscht trotz versiegender Geldautomaten kaum Panik. Ruhig stehen die Menschen vor den Geldautomaten an, die täglich nur noch 60 Euro ausspucken. Für die allermeisten Griechen ist das mehr als genug; Renten und Gehälter waren am Freitag vor der Eskalation zumeist pünktlich auf den Konten. Die Straßencafés in Athen sitzen voll, man plaudert.
An Griechenland hängt mehr als nur der Euro
Seit Wochen betonen die Euro-Partner, dass die Ansteckungsgefahr nach einem Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone eher gering wäre. Zum einen wird darauf verwiesen, dass sich heute fast alle griechischen Schulden bis auf 40 bis 50 Milliarden Euro in der öffentlichen Hand befinden - eine Kettenreaktion kollabierender Banken also nicht zu befürchten sei. Zum anderen hätten sich Gläubiger seit langem auf mögliche Probleme eingestellt und ihre griechischen Geschäfte reduziert.
Alles falsch, meint Schulz und verweist darauf, dass die Risikoaufschläge etwa für spanische Staatsanleihen in den vergangenen Wochen erheblich gestiegen seien. Kommt ein Staatsbankrott, würde der möglicherweise einen Schuldenschnitt nach sich ziehen - mit erheblichen Belastungen für die klammen Haushalte etwa der südlichen EU-Staaten, aber auch Frankreichs.
Außerdem könnte das Vertrauen in den Euro als Währung weltweit Schaden nehmen, wenn eines der 19 Mitglieder ausbreche, heißt es in der Bundesregierung. Dabei spiele keine große Rolle, dass Griechenland weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Währungszone beisteuere. Denn die angebliche Unumkehrbarkeit der Euro-Einführung wäre widerlegt.
In Berlin fürchtet man aber auch, dass ein Kollaps Griechenlands den Befürwortern eines britischen Austritts aus der EU Auftrieb geben könnte. Europa droht also an seinen Rändern zu zerfasern. Der Grund ist einfach: Die EU wäre nach einem Ausstieg Athens wahrscheinlich in einem so desolaten Zustand und müsste so viel kurzatmige Rettungsaktionen für Griechenland starten, dass die Gemeinschaft auf britische Wähler kaum noch attraktiv wirken dürfte. Möglicherweise würden zudem mehr Griechen das eigene Land auch Richtung Großbritannien verlassen wollen. Die Briten schimpfen aber bereits jetzt über zu viele Migranten aus anderen EU-Ländern - dies ist einer der Kritikpunkte der EU-Gegner auf der Insel.
Griechenland ist nicht nur ein angeschlagener Euro-Staat, sondern auch ein schwieriger EU-Partner. Mit seiner Linksaußen- Rechtsaußen-Regierung betonte Ministerpräsident Alexis Tsipras politische Nähe zum Kreml und hat sich mehrfach mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin getroffen. In der EU gibt man sich zwar gelassen, dass Russland nicht als alternativer Geldgeber gegen die EU ausgespielt werden kann - dafür sind die nötigen Hilfssummen viel zu groß. Auch die Träume des Links-Politikers, dass Griechenland Verteilland für russisches Gas in der EU werden könnte, dürften sich angesichts des Vorgehens der EU-Kommission gegen den russischen Gasriesen Gazprom zerschlagen. Aber Putin hat nach Ansicht von EU-Diplomaten durchaus schon bewiesen, dass er Differenzen zwischen EU-Staaten ausnutzen kann. Bei der Verlängerung von EU-Sanktionen gegen Russland braucht es etwa auch die Zustimmung Griechenlands.
In Berlin sorgt man sich zunehmend, dass die gesamte Balkan-Region ohnehin sehr instabil werden kann. Immer noch gärt der Namensstreit zwischen Griechenland mit dem EU-Beitrittsaspiranten Mazedonien - in dem ein heftiger innenpolitischer Machtkampf tobt. Und Geheimdienste warnen, dass die radikalislamische Miliz Islamischer Staat (IS) in den vergangenen Monaten massiv versucht hat, in den moslemischen Bevölkerungen Bosnien-Herzegowinas, Albaniens oder Mazedoniens Fuß zu fassen. Ein zusammenbrechender Nachbarstaat Griechenland würde die Unruhe in der Region noch verstärken.
Kaum diskutiert worden ist die Rolle Griechenlands bei der Abwehr eines unkontrollierten Zuzugs von Flüchtlingen in die EU. In den vergangenen Jahren hat der bessere Schutz der griechisch-türkischen Grenze Flüchtlingen aus dem Nahen Osten die Einwanderung in die EU zumindest zum Teil erschwert. Die linke Syriza-Partei könnte im Falle eines Staatsbankrotts die Schleusen für afrikanische oder syrische Flüchtlinge aufmachen. Entsprechende Drohungen waren aus Athen bereits zu hören. Denn seit Jahresbeginn seien bereits 46.000 Flüchtlinge nach Griechenland gekommen, teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit. 2014 waren es im selben Zeitraum nur 34.000 Personen. Die Vereinten Nationen warnen bereits vor einer Flüchtlingskatastrophe in Griechenland.
EU-Kommissar Günther Oettinger forderte die Brüsseler Behörde auch deshalb auf, einen "Plan B" zu erarbeiten. Dabei soll Hilfe für das Land für den Fall eines Bankrotts vorbereitet werden. Neben humanitärer Hilfe gehe es um die Frage, wie man eigentlich die Sicherheit in dem EU-Land noch gewährleisten will, wenn die Regierung den Polizisten keine Löhne mehr zahlen kann.
Normales Leben auch auf den Inseln des Landes. „Noch haben wir keine Probleme, unsere Waren zu bestellen“, sagt die Kassiererin im Supermarkt in Gouves, einem kleinen Touristenort an der Nordküste von Kreta. Und wenn sich das in den nächsten Wochen ändern sollte, hätten sie die besten Orangen, Oliven und wunderbaren Wein doch ohnehin auf der Insel. Auch mit Kreditkarte können die Kunden in ihrem Laden weiterhin bezahlen. „Nur eins darf nicht passieren, dass die Touristen wegbleiben – das würde uns hart treffen.“ Doch Kreta-Urlauber bekommen von den Demonstrationen in Athen ohnehin nichts mit.
Die Einheimischen schon: Mietwagen-Verleiher Vasilis sitzt in seinem Büro vor dem Fernseher, wo der Livestream zur Krise läuft. Dauerbeschallung mit Tsipras, Merkel und Co. Nur den Ton hat Vasilis ausgeschaltet. „Ich kann es nicht mehr hören“, sagt er. „Die Politiker erzählen uns sowieso nicht die Wahrheit. Sie haben sich völlig vom Volk entkoppelt.“ Er sagt: „Wir brauchen den Euro. Deshalb werden mein Sohn und ich und unsere ganze Familie auch für Europa und den Euro abstimmen.“ Bis dahin arbeitet aber auch er unter verschärften Bedingungen: Kunden, die bar bezahlen, bekommen Rabatt.
Europa
Im Westen Kretas, in der Hafenstadt Chania, hat bereits eine Tankstelle an der Hauptstraße zur Altstadt geschlossen. Einige Kilometer weiter läuft der Tankservice zu den üblichen Preisen, aber: „Bis zur nächsten Woche nehmen wir nur Bargeld an, weil wir den Sprit gegen Bargeld einkaufen müssen“, sagt der Tankwart einer BP-Tankstelle.
„Die meisten Griechen spüren jetzt, wie sich ein Staatsbankrott anfühlt“, sagt der Athener Politikwissenschaftler George Tzogopoulos, bislang sei das ja alles nur Theorie gewesen. Dadurch werde die Abstimmung über das Sparprogramm zu einer Abstimmung für oder gegen den Euro – und da sei die Mehrheit der Griechen entschieden für den Euro. Er sei daher optimistisch, dass Griechenland am Ende doch noch zur Vernunft zurückfinde.