Großbritannien May schwört auf historische Veränderungen ein

Seite 2/2

75.000 Arbeitsplätze in der Finanzbranche bedroht

Die Beratungsfirma Oliver Wyman hat errechnet, die Finanzbranche könne im schlimmsten Fall bis zu 38 Milliarden Pfund an Umsatz einbüßen. Zudem seien 75.000 Arbeitsplätze bedroht, heißt es in der Studie, die vom Branchenverband TheCityUK in Auftrag gegeben wurde. Der Chef der Londoner Börse Xavier Rolet warnte ferner davor, dass London künftig die Abwicklung von Euro-Wertpapiergeschäften verboten werden könnte: „Das könnte den Finanzfirmen Verluste von mehreren zehn Milliarden Dollar verursachen“. Es bestehe außerdem die Gefahr, dass nicht Paris, Amsterdam oder Frankfurt von der Schwächung des Finanzplatzes London profitieren werde, sondern New York.

Finanzminister Philip Hammond hatte der City zwar versprochen, sie werde auch künftig hochqualifizierte Banker und Experten aus der EU anheuern können. Doch ist völlig unklar, wie Hammonds Versprechen umgesetzt werden soll. Denn auch die Baubranche, die Landwirtschaft und die Lebensmittelindustrie will weiter Zugang zu EU-Arbeitskräften. Im staatlichen Gesundheitswesen, wo ein Viertel aller Arbeitsplätze auf Ausländer entfällt, sollen dagegen künftig mehr britische Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern eingestellt werden. Ein Plan, der sich allenfalls mittelfristig verwirklichen lässt.

Unternehmen sollen Ausländeranteil der Belegschaft offenlegen

Äußerst unwillig reagierten Großbritanniens Wirtschaftsverbände auf die Ankündigung der neuen Innenministerin Amber Rudd, künftig müssten alle britischen Unternehmen offenlegen, wie hoch der Ausländeranteil in ihrer Belegschaft sei. Rudd erläuterte auf dem Parteitag, Ziel der Aktion sei nämlich, dass möglichst viele Jobs an britische Bewerber gingen. „Es wäre fatal, wenn die Zahl der ausländischen Arbeitnehmer von jetzt an als eine Schande für das betroffene Unternehmen gelten würden“, wetterte Adam Marshall, der Chef der britischen Handelskammern.

Wie es nach dem Referendum weiter geht
Premierminister David Cameron Quelle: dpa
Artikel 50 Quelle: dpa
Der ungeregelte Austritt Quelle: dpa
Das Modell „Norwegen“: Quelle: dpa
Das Modell „Schweiz“: Quelle: dpa
Das Modell „Kanada“: Quelle: dpa
Das „WTO“-Modell Quelle: REUTERS

Auch der einflussreiche Industrieverband CBI kritisierte, die Regierung habe noch sehr viele offene Fragen zu beantworten, die nun, nachdem der Zeitplan für den Beginn der Austrittsverhandlungen klar sei, noch dringlicher eine Antwort erforderten als bisher. CBI-Generaldirektorin Carolyn Fairbairn: „Nun da wir auf einen beschleunigten EU-Austritt im Frühjahr 2019 zusteuern müssen wir wissen, welche Vorstellungen die Regierung im Hinblick auf einen freien Zugang zum Binnenmarkt hat und wie sie das Problem des Facharbeitermangels angehen will“.

Autobranche ist nicht glücklich über den Brexit

Beim Pariser Autosalon hatte der Chef von Renault-Nissan, Carlos Ghosn, bereits gedroht, künftig werde sein Konzern nur noch dann neue Investitionen im nordenglischen Sunderland einplanen, wenn die britische Regierung ihm eine Entschädigung für künftige Zölle und andere Handelshemmnisse in Aussicht stelle. Nissan produziert in Sunderland rund 500.000 Fahrzeuge im Jahr, der größte Teil davon geht in den Export. Und auch die Kollegen des indischen Autobauers Jaguar Landrover sind nicht glücklich über den Brexit: sie beklagen, ausländische Käufer seien bereits jetzt zurückhaltender als bisher, was den Erwerb eines britischen Pkw angehe.

Und obwohl die britische Konjunktur die Folgen des EU-Referendums angesichts der exportfördernden Pfundabwertung und der lockeren Geldpolitik der Bank of England bisher viel besser überstanden hat als befürchtet, handelt es sich dabei wohl nur um eine Scheinblüte: „Ich war immer der Ansicht, dass der Brexit keinen kurzen scharfen Schock auslösen würde sondern eher langfristige Kosten verursachen dürfte, die sich über fünf bis zehn Jahre erstrecken könnten“, meint Stephanie Flanders. Denn es sei ein Fehlschluss anzunehmen, dass ein „harter“ Brexit, bei dem Großbritannien den Binnenmarkt verlasse, ohne wirtschaftliche Kosten möglich sei.

Das der konjunkturelle Einbruch bisher ausblieb, birgt allerdings Risiken, denn es könnte die britischen Unterhändler arrogant und realitätsfremd werden lassen, wenn es um das künftige Verhältnis zu Europa geht. Die Annahme, die EU-Staaten seien stärker vom Handel mit Großbritannien abhängig als umgekehrt, ist jedenfalls ein britischer Trugschluss. Und wenn May in einem Jahr auf dem nächsten Tory-Parteitag auftritt wird sie an den ersten Ergebnissen der Austrittsverhandlungen gemessen werden und nicht nur an ihren wohlklingenden Visionen für ein gerechteres und sozialeres Großbritannien.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%