Großbritannien Schock-Ergebnis versetzt Wirtschaft in Aufruhr

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Droht Theresa May ein Putsch?

Die Labour-Partei erzielte tatsächlich ein unerwartet gutes Ergebnis und konnte laut der Prognosen wohl 265 Sitze gewinnen – ist aber nach derzeitigem Stand ebenfalls nicht in der Lage, eine Regierung zu bilden. Denn rein rechnerisch reicht es selbst bei einer Koalition der sogenannten „progressiven Allianz“ aus Labour, Schottischen Nationalisten, Grünen und der walisischen Partei Plaid Cymru nicht für eine Mehrheit von 326 Sitzen.

Die Liberaldemokraten hatten eine Koalition mit einer der beiden großen Parteien ausdrücklich ausgeschlossen. Mit den Tories wiederum dürfte allenfalls die nordirischen Protestanten der DUP kooperieren, doch auch hier reicht es vielleicht nicht für eine regierungsfähige Mehrheit. Koalitionsregierungen sind in Großbritannien ohnehin unbeliebt und unüblich. So bliebe die Möglichkeit einer konservativen Minderheitsregierung oder einer Labour-Minderheitsregierung, die aber beide wenig stabil sein dürften. Möglicherweise könnte es dann schon in wenigen Monaten erneut zu Neuwahlen kommen. Am 13. Juni kommt das neue Parlament zu seiner ersten konstituierenden Sitzung zusammen. Bis dahin hat May theoretisch Zeit, eine Regierung zu bilden.


Das politische Machtvakuum gefährdet nicht nur den ohnehin sehr knapp bemessenen Zeitrahmen für die Brexit-Verhandlungen. Vor allem zeigt sich Großbritannien nun als ein tief gespaltenes Land. Ein knappes Jahr nach dem EU-Referendum, bei dem 52 Prozent der Briten sich für den Austritt aus der EU ausgesprochen hatten, ist völlig unklar, welche Art des Brexit das Vereinigte Königreich bei seinen Scheidungsverhandlungen mit den übrigen 27 Partnerländern anstrebt. Während May einen „harten Brexit“ befürwortet, will Labour den Ausstieg aus der EU zwar nicht rückgängig machen, setzt aber weiterhin auf Mitgliedschaft im Binnenmarkt und will zwar prinzipiell ein Ende der Personenfreizügigkeit, hat sich hier aber nicht auf Zahlen festgelegt.

Premierministerin May dagegen machte klar, dass Großbritannien unter ihrer Führung den EU-Binnenmarkt verlassen und wahrscheinlich auch aus der Zollunion aussteigen würde. Sie hofft auf ein maßgeschneidertes Freihandelsabkommen mit der EU, drohte aber immer wieder, sie werde die Verhandlungen lieber ohne Ergebnis abbrechen, als sich auf einen schlechten Deal einzulassen. Darüber hinaus hat sie sich verpflichtet, die Einwanderungszahlen binnen fünf Jahren um fast zwei Drittel auf netto weniger als 100.000 Migranten im Jahr zu senken, sie glaubt nur auf diese Weise das Mandat der Brexit-Befürworter erfüllen zu können.

Die Schottischen Nationalisten, die Grünen und die Liberaldemokraten wollen eigentlich in der EU bleiben und würden daher einen softeren Brexit ansteuern. Eine Koalition der pro-europäischen Parteien unter Labour könnte demnach die Verhandlungen mit der EU erleichtern. Gleichzeitig besteht das Risiko, dass eine instabile Koalition schnell wieder auseinanderbrechen und sich als unzuverlässiger Gesprächspartner erweisen könnte. Für die schwer angeschlagene May dürfte es wiederum ein Problem sein, eventuelle Kompromisse mit der EU den Euroskeptikern in der eigenen Partei zu verkaufen.

Für die Wirtschaft, die ohnehin auf längere Übergangsfristen und Planbarkeit drängt, wird die Lage angesichts der unklaren Mehrheitsverhältnisse nun erheblich schwieriger. Der Industrieverband CBI warnt schon lange vor einem ungeordneten Austritt, dem sogenannten „Klippenszenario“, bei dem alle bisher geltenden Regeln im bilateralen Handel von einem Tag auf den anderen enden würden.

Exportanteile Großbritanniens: Wie die Abhängigkeit GB von der EU über die Jahre gesunken ist

Für die Unternehmen, die überwiegend für einen Verbleib in der Union gekämpft hatten, ist all dies Anlass zu großer Sorge, da 45 Prozent der britischen Exporte in die EU gehen und die Vorstellung eines knallharten Brexit ohne Abkommen zu den Horrorszenarien der Wirtschaftsverbände gehört. All das birgt Gefahren für die britische Konjunktur die ohnehin bereits Anzeichen für ein Nachlassen der Wachstumsdynamik zeigt.

Als Trostpflaster kann da allenfalls das schlechte Abschneiden der SNP gelten, die in Schottland heftige Verluste hinnehmen musste, die vor allem den Tories zugute kamen. Die Schottischen Nationalisten kommen nur noch auf 34 von 59 möglichen Sitzen, nachdem sie 2015 bei einem Erdrutschsieg 56 Mandate gewonnen hatten. Damit ist das von der SNP angestrebte zweite Referendum über Schottlands Unabhängigkeit wohl vom Tisch – zumindest eine gute Nachricht für die Wirtschaft, die einen Zerfall des Vereinigten Königreichs fürchtete.

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