Liz Truss soll neue Premierministerin in Großbritannien werden. Wie die regierenden Konservativen am Montag mitteilten, setzte sich die Außenministerin in einer parteiinternen Abstimmung gegen den früheren Finanzminister Rishi Sunak durch. Sie tritt die Nachfolge von Boris Johnson als Partei- und damit auch Regierungschef an.
Liz Truss muss nun vom ersten Tag an nicht nur den Spagat zwischen Nähe und Distanz zu Johnson bewältigen. Es geht darum, die Scherben aufzuräumen, die der 58-Jährige in der britischen Politik hinterlässt. Anstand und Moral sind in der Ära Johnson auf der Strecke geblieben. „Mangel an Vertrauen ins Amt des Premierministers ist eines der größten Probleme, denen der nächste Amtsinhaber gegenübersteht”, kommentierte die „Guardian”-Korrespondentin Pippa Crerar, deren Recherchen zur Partygate-Affäre letztlich Johnsons Sturz eingeleitet hatten.
Dazu kommen zahlreiche Baustellen: Truss hat noch nicht klargemacht, was sie gegen die explodierenden Preise für Strom und Gas unternehmen will, die Millionen Briten in die Energiearmut treiben dürften. In etlichen Branchen wird gestreikt. Der Gesundheitsdienst NHS steht nach der Pandemie enorm unter Druck, Millionen warten auf Operationen und Behandlungen. Pflege und Sozialfürsorge benötigen dringend Reformen. Der Brexit ist trotz Johnsons ständiger Betonung alles andere als „done”, erledigt. Und schließlich ist London ein wichtiger Verbündeter der Ukraine.
Die Skandal-Chronik von Boris Johnson und seiner Regierung
28. April: Die britische Wahlkommission leitet eine förmliche Untersuchung der Finanzierung der Renovierung von Johnsons Wohnung in der Downing Street ein und begründet dies mit dem Verdacht, dass eine Straftat begangen worden sein könnte.
26. Oktober: Dem konservativen Abgeordnete Owen Paterson aus dem ländlichen North Shropshire droht eine 30-tägige Suspendierung. Das Komitee zur Wahrung der Standards kommt zu dem Schluss, dass Paterson sich für Lobby-Arbeit hat bezahlen lassen und damit die Statuten missachtet hat.
3. November: Die Regierung stimmt für eine Aufweichung der Regeln des Parlaments im Kampf gegen Korruption. Das könnte einen Abgang von Paterson verhindern. Der Vorstoß löst jedoch eine Debatte über Integrität unter der Führung Johnsons aus. Die Opposition wirft den Konservativen Korruption vor.
4. November: Nach massiven Unmut in der eigenen Partei lässt die Regierung ihre Pläne zur Änderung der Statuten fallen. Der konservative Abgeordnete Owen Paterson tritt zurück, womit eine Nachwahl in seinem Wahlkreis in North Shropshire nötig wird.
22. November: Bei einer Rede verheddert sich Johnson in seinem Manuskript. Stattdessen erzählt er von seinem jüngsten Besuch in einem Themenpark für Kinder. Er ist an die erfolgreiche Zeichentrick-Serie Peppa Pig (deutsch: Peppa Wutz) über ein Schweinemädchen angelehnt. Den anwesenden Wirtschaftsvertretern erzählt er, dass alle so wie er am Vortag dem Park einen Besuch abstatten sollten.
Und weiter: „Ich fand es toll. Peppa Pig World ist nach meinem Geschmack: Es gibt sichere Straßen und Disziplin an den Schulen.“ Seine Führung gerät erneut in die Kritik. Nachfragen von Reportern tut er ab: „Ich glaube, die Menschen haben die meisten meiner Botschaften verstanden. Das lief sehr gut.“
30. November: Die Zeitung „The Mirror“ berichtet über eine Weihnachtsfeier im Dezember 2020 - der erste solche Bericht über Zusammenkünfte während des ersten Lockdowns in Regierungsbüros und Johnsons Büro am Amtssitz Downing Street. Zu der Zeit waren in England Kontakte stark eingeschränkt.
7. Dezember: ITV veröffentlicht ein Video, in dem Mitarbeiter eine Pressekonferenz nachstellen und sich darüber lustig machen, wie sie eine Zusammenkunft in Downing Street erklären sollen. Nur Stunden zuvor hatte Johnson vor Reportern erklärt, dass er sehr zufrieden sei, dass keine Corona-Beschränkungen missachtet wurden.
8. Dezember: Johnson entschuldigt sich für ein Video in dem Mitarbeiter eine Pressekonferenz nachstellen und sich darüber lustig machen, wie sie eine Zusammenkunft in Downing Street erklären sollen. Er erklärt, es mache ihn wütend. Seine Sprecherin und Beraterin, Allegra Stratton, die selbst in dem Video zu sehen ist, tritt zurück.
9. Dezember: Die Konservative Partei wird von der Wahlaufsicht zu einer Strafe von 17.800 Pfund (umgerechnet rund 21.000 Euro) verdonnert. Der Partei wird vorgeworden, eine Spende nicht ordnungsgemäß angegeben zu haben, mit deren Hilfe die Renovierung des Dienstsitzes Downing Street finanziert wurde. Dies warf die Frage wieder auf, wer für die Arbeiten aufgekommen ist. Medienberichten zufolge hat die Renovierung Hunderttausende Pfund gekostet.
14. Dezember: Johnson sieht sich mit einer regelrechten Revolte in den eigenen Reihen konfrontiert. Fast 100 Tory-Abgeordnete im Unterhaus stimmen gegen die von ihm geforderten neuen Regeln zur Eindämmung der Pandemie. Versuche hinter den Kulissen, die Tory-Abweichler doch noch auf Kurs zu bringen, scheitern. Die Schlappe schürt Zweifel an Johnsons Stellung in der Partei.
17. Dezember: Der Chef der laufenden Regierungsermittlungen zu möglichen Corona-Verstößen bei unzulässigen Weihnachtsfeiern, Simon Case, tritt zurück. Case habe sich zurückgezogen, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Untersuchung zu bewahren, teilt das Büro von Johnson mit. Case, der höchste britische Beamte, war selbst in die Kritik geraten, nachdem britische Medien berichtet hatten, dass es in seiner Abteilung im Dezember 2020 Zusammenkünfte gegeben haben soll.
18. Dezember: Der britische Brexit-Minister David Frost tritt mit sofortiger Wirkung zurück. Als Grund gibt er Sorgen um den Kurs der Regierung an. Laut der Zeitung „Mail on Sunday“ war Frost über Johnsons politische Entscheidungen frustriert, darunter auch die Corona-Beschränkungen.
19. Dezember: Die Tageszeitung „The Guardian“ veröffentlicht ein Foto von Johnson und mehr als ein Dutzend weiterer Personen beim Weintrinken im Garten von Downing Street. Das Foto soll am 15. Mai 2020 entstanden sein – also ebenfalls während des ersten Lockdowns. Auf dem Foto ist Johnson an einem Tisch auf der Terrasse sitzend zu sehen, vor sich ein Glas Wein. Neben ihm sitzt seine Lebensgefährtin Carrie mit dem gemeinsamen, neugeborenen Sohn im Arm.
10. Januar: Der Sender ITV veröffentlicht eine E-Mail von Johnsons Privatsekretär, in der er für den 20. Mai 2020 über 100 Mitarbeiter zu einer Gartenparty am Amtssitz Downing Street 10 einlädt. Den Alkohol möge jeder selbst mitbringen. Dem Sender zufolge waren Johnson und seine damalige Lebensgefährtin und jetzige Ehefrau Carrie unter den etwa 40 Gästen.
12. Januar: Johnson räumt ein, an einer Gartenparty am 20. Mai 2020 teilgenommen zu haben. Er entschuldigt sich im Parlament. Er sei davon ausgegangen, dass es sich um eine Arbeitsbesprechung gehandelt habe. Er sei für etwa 25 Minuten dabei gewesen, um Mitarbeitern zu danken. Im Nachhinein hätte er alle wieder reinschicken sollen, sagt Johnson.
1. Juli: Konservative suspendieren den Abgeordneten Christopher Pincher, dem sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. Zuvor hatte er seinen Rücktritt als stellvertretender parlamentarischer Geschäftsführer eingereicht.
5. Juli: Johnson entschuldigt sich im Fernsehen für seinen Umgang mit dem Fall des Konservativen Christopher Pincher, dem sexuelles Fehlverhalten vorgeworfen wird. Zuvor hatte ein ehemaliger hochrangiger Beamter des Außenministeriums Johnsons Büro vorgeworfen, gelogen zu haben mit der Behauptung, der Premier habe von Beschwerden über sexuelles Fehlverhaltens des Tory-Abgeordneten nichts gewusst.
Ebenfalls am 5. Juli: Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid treten zurück. Sie sprechen Johnson die Fähigkeit ab, eine Verwaltung zu führen, die sich an Standards hält. Auch mehrere Staatssekretäre treten zurück oder kündigen ihren Abgang an.
7. Juli: Der britische Nordirland-Minister Brandon Lewis und der Staatsminister für Sicherheit, Damian Hinds, erklären ihren Rücktritt – genau wie die erst kurz zuvor ernannte neue Bildungsministerin Michelle Donelan. Insgesamt sind damit mehr als 50 Minister und führende Regierungsmitarbeiter aus Protest gegen Johnson und die Skandale zurückgetreten.
Truss überzeugt die Parteibasis – aber auch die Briten?
„Es gibt begründete Zweifel, ob die Konservative Partei oder der erfolgreiche Kandidat die „Flitterwochen” genießen kann”, sagt der Autor Mark Garnett, der mehrere Bücher über britische Politik geschrieben hat, der Deutschen Presse-Agentur. Denn unklar ist, ob sich Truss bei den enormen Herausforderungen auf ihre Partei verlassen kann. Die Tories seien pragmatisch, sie würden sich schnell zusammenraufen, meint zwar der Politologe Matthew Flinders von der Universität Sheffield. Andere aber sind skeptischer.
Die Spaltungen innerhalb der Partei seien offengelegt worden, sagt Garnett. Der frühere Tory-Abgeordnete Robert Hayward sagte der Nachrichtenagentur PA, die Siegerin Truss starte mit einem riesigen Nachteil: Sie habe keinesfalls automatisch die Mehrheit ihrer Fraktion hinter sich. So sagte der einflussreiche Ex-Minister Michael Gove jüngst, er werde nicht zwingend für Truss' Budgetpläne stimmen. Der Wahlkampf, bei dem es vor allem zu Beginn zu harten persönlichen Attacken kam, hat der Partei schwer zugesetzt.
Auch wenn Truss offenbar die Parteibasis von sich überzeugt hat, bedeutet das noch lange nicht, dass sie auch bei den anderen Britinnen und Briten ankommt. „Ironischerweise sind genau die Gründe, wegen denen Liz Truss seit Beginn als klare Favoritin im Finale galt, dieselben, warum sie Probleme haben wird, die Zustimmung der Nicht-Konservativen zu bekommen”, sagt Experte Garnett. „Sie hat direkt an die nationalistischeren, neoliberalen Konservativen appelliert, die vielleicht die Mehrheit in der Partei stellen, aber nicht die Ansichten der Durchschnittswähler widerspiegeln.”
Johnson bleibt Abgeordneter
Außerdem hat sich Truss nicht von Johnson distanziert. Auch das hilft der Außenministerin nach Einschätzung von Analysten bei der Zustimmung der Johnson-begeisterten Basis. Enge Vertraute des scheidenden Premiers wie Kulturministerin Nadine Dorries oder Staatssekretär Jacob Rees-Mogg könnten im Kabinett „als Brücke zu Boris” dienen, sagt Politologe Flinders.
Johnsons Aus dürfte nicht sein politisches Ende bedeuten. Sein Mandat im Parlament behält der frühere Londoner Bürgermeister und Außenminister. Von einem Platz auf den hinteren Bänken könnte er die Regierung mit seinem Gefühl für den richtigen Zeitpunkt vor sich hertreiben, sagt Politologe Flinders voraus. Johnsons langjähriger Weggefährte Jonathan Marland zeigte sich in der BBC zuversichtlich, dass der Abschied nur vorübergehend sein werde. Es bestehe eine „eindeutige Möglichkeit”, dass Johnson zurückkehre, sagte Marland.
Auch Experte Garnett rechnet damit. „Er sehnt sich nach Applaus, und die Umstände seines Abschieds waren demütigend.” Jedes Problem, auf das Johnsons Nachfolger stoßen, werde die Rufe nach ihm lauter werden lassen. Zumal viele Tories noch immer Johnson für einen Siegesgarant halten – und denken, dass sie nur mit ihm die kommende Parlamentswahl gewinnen können, die spätestens im Januar 2025 stattfinden muss.
Andere urteilen härter. Der „Narzisst aus Nummer 10” habe versagt, schrieb der „Financial Times”-Autor Henry Mance. Das habe man aber vorher wissen können. „Johnson zum Premierminister zu machen, war, wie Wackelpudding als Hauptgericht bei einem Staatsbankett zu servieren. Und nachdem die Gäste es gegessen haben, zu enthüllen, dass die Küche gegen E.coli-Bakterien-Richtlinien verstoßen hat.”
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