Großbritannien und der EU-Austritt Die Briten üben den Brexit

Was passiert eigentlich, wenn die Briten für den Austritt aus der EU stimmen? Eine Denkfabrik hat die Verhandlungen simuliert. Gekämpft wurde mit harten Bandagen: „Ein Tsunami wäre im Vergleich zum Brexit eine Kleinigkeit“, warnt etwa Spaniens frühere Außenministerin.

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Die europäische Flagge neben dem Union Jack. Quelle: REUTERS

„Ein Tsunami wäre im Vergleich zum Brexit eine Kleinigkeit“, warnt Ana Palacio, Spaniens frühere Außenministerin, düster. Gemeinsam mit hochrangigen Repräsentanten acht wichtiger EU-Länder – darunter zwei Ex-Regierungschefs sowie mehrere frühere Minister -  sitzt die Spanierin in einer ehemaligen Brauerei im Londoner Finanzviertel im gleißenden Scheinwerferlicht an einem Verhandlungstisch, um die britischen Ausstiegsmodalitäten aus der Europäischen Union zu diskutieren.

Den Part des britischen Premierministers hat Lord Norman Lamont, ehemaliger Finanzminister und bekennender Euroskeptiker, übernommen. „Unser Nein bedeutet nicht, dass wir Europa ganz und gar den Rücken kehren wollen“ beschwört er seine Gesprächspartner und versucht bei ihnen um Konzessionen für den Handel und die Londoner City zu werben. Damit stößt er allerdings auf wenig Gegenliebe, und schnell kommt es zum Eklat.

Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa

Zum sogenannten „War Game“ (Kriegsspiel), bei dem die Verhandlungen über einen britischen EU-Ausstieg simuliert werden, hatte der einflussreiche Think Tank „Open Europe“ geladen. Dessen ehemaliger Chef Mats Persson sitzt heute als Europaberater von Premier David Cameron in der 10 Downing Street.

Cameron hofft, dass bereits beim nächsten EU-Gipfel am 18. und 19. Februar eine Einigung über seine Reform-Vorschläge erzielt werden kann, damit er in diesem Sommer das Referendum über Verbleib oder Austritt in der EU anberaumen kann. Bisher steht der genaue Termin für die Volksabstimmung über die Zukunft Großbritannien in Europa, die Cameron bis spätestens Ende 2017 versprochen hat, noch nicht fest. Eine Einigung beim EU-Gipfel im Februar würde es ihm aber ermöglichen, seine Landsleute noch im Juni abstimmen zu lassen. Der britische Premier drückt aufs Gas, weil 2017 in Frankreich und in Deutschland Wahlen stattfinden und Großbritannien im zweiten Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird.

Zweijährige Verhandlungen über das künftige Verhältnis

In den Umfragen liegen Gegner und Befürworter der EU-Mitgliedschaft etwa gleichauf, der Anteil der unentschlossenen Wähler ist allerdings immer noch groß. Sollte aber tatsächlich eine Mehrheit der Briten mit Nein stimmen, so träte Artikel 50 des Lissabon-Vertrages in Kraft, der zweijährige Verhandlungen über das künftige Verhältnis des Ausstiegskandidaten und der EU vorsieht. In dieser Zeit bliebe Großbritannien weiterhin EU-Mitglied und würde auch – das macht Lamont klar – seinen Beitrag zum EU-Haushalt zahlen. Doch wie bei einer Ehescheidung so zeigt sich im Verlauf des Tages auch bei den simulierten Ausstiegsverhandlungen, dass Vorwürfe, Rachegelüste und Verbitterung bei den „verlassenen“ Partnern vorherrschen. „Sich die Rosinen herauszupicken, nachdem man uns vorher monatelang gequält hat, ist nicht akzeptabel“, erklärt der frühere Finanzstaatssekretär Steffen Kampeter, der als Vertreter Deutschlands an der Debatte teilnimmt.

Großbritanniens wichtigste Importländer

Kampeter macht gemeinsam mit der ehemaligen französischen Europaministerin Noelle Lenoir deutlich, dass London im Anschluss an einen Brexit-Beschluss mit verstärkter Konkurrenz anderer europäischer Finanzplätze rechnen müsse. In diesem Sinne äußert sich auch Italiens früherer Ministerpräsident Enrico Letta. „Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass die EU nach einem britischen Austritt ein Finanzzentrum außerhalb ihrer Grenzen akzeptieren würde?“, schnauzt Karel de Gucht, der einstige EU-Handelskommissar, der in der Diskussion die EU und ihre Institutionen vertrat, den Briten Lamont an. Irlands ehemaliger Premierminister John Bruton kündigt an, Irland werde sich in diesem Fall verstärkt bemühen, Finanzgeschäfte von London nach Dublin zu holen.

Brexit wäre für Irland besonders verhängnisvoll

Für Irland, das geographisch, wirtschaftlich und politisch eng mit Großbritannien verflochten ist, wäre ein Austritt des großen Nachbarn besonders verhängnisvoll. „Irland würde mehr leiden als jeder andere EU-Staat“, so Bruton, der in diesem Zusammenhang vor einem „schweren  Schock“ und einer „langen Phase großer Ungewissheit“ warnte.

Die Debatte zeigt, wie schwierig es sein dürfte, im Hinblick auf Camerons Reformforderungen eine Lösung zu finden. Größter Streitpunkt ist weiterhin der britische Vorschlag, Sozialleistungen für EU-Ausländer in den ersten vier Jahren zu streichen. In diesem Zusammenhang fordert Bruton nun eine Ausnahmeregelung für die in Großbritannien lebenden Iren. Das allerdings dürfte den Osteuropäern gar nicht gefallen. Leszek Balcerowicz, ehemaliger stellvertretender polnischer Regierungschef wollte sich auf Anfrage der WirtschaftsWoche zwar nicht dazu äußern, doch hatte Warschau den Briten schon früher signalisiert, man werde keine Lösung dulden, die auf eine Diskriminierung der Polen im Vereinigten Königreich hinauslaufen würde.

Großbritanniens wichtigste Exportländer

Das „Kriegsspiel“ bei dem am Vormittag zunächst die Reformverhandlungen im Vorfeld des Referendums durchgespielt worden waren, zeigte deutlich, dass alle Beteiligten Großbritannien in der EU halten wollen, die Positionen der Vertreter Deutschlands, Frankreichs, Spaniens, Italiens, Polens, Schwedens, Irlands und der Niederlande jedoch recht unterschiedlich sind. Nach einem Brexit-Beschluss würde er auf „konstruktive Verhandlungen“ hoffen, sagte Lamont.

Balcerowicz allerdings erklärte, zu viel Großzügigkeit sei nicht angebracht, schließlich sei Abschreckung wichtig, damit andere EU-Staaten nicht auf die Idee kämen, dem Beispiel Großbritanniens zu folgen. „Wir sollten populistische Bewegungen wie den Front Nationale in Frankreich oder Podemos in Spanien keinesfalls ermutigen“, so Balcerowicz. Im Falle eines „Nein-Votums“ habe die EU zunächst wichtigere Prioritäten, als sich um das künftige Verhältnis zu ihrem abtrünnigen Mitgliedsstaat zu kümmern, erklärten auch andere Diskussionsteilnehmer. In der Realität dürfte es dann aber vielleicht doch pragmatischer zugehen als im Rollenspiel.

Womöglich kommt es ja ohnehin nicht zum Brexit. Kampeter jedenfalls ist optimistisch: „Alle Probleme, die es mit Camerons Forderungskatalog gibt, sind lösbar – auch bis zum EU-Gipfel im Februar“, sagte er der WirtschaftsWoche am Rande der Veranstaltung. Letztlich, da sind sich viele Beobachter einig, wird es ohnehin weniger darum gehen was Cameron konkret aushandelt, solange ihm seine Landsleute abnehmen, dass er in Brüssel hart für ihre Interessen gekämpft hat: „Er muss mit einem blutigen und zerrissenem Hemd zurückkehren“, lautet die Devise.

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