Großbritannien Wie der Brexit plötzlich mehrheitsfähig wird

Ein EU-Austritt würde Großbritannien und Europa teuer zu stehen kommen, die britische Wirtschaft könnte um zehn Prozent einbrechen. Doch das ist immer mehr Briten offenbar schlicht egal und der Brexit längst kein Hirngespenst mehr.

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Londons Sonderwege in Europa
1960Als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird auf Initiative Londons die Europäische Freihandelszone (EFTA) gegründet, die keine politische Integration anstrebt. Im Bild: Der damalige EFTA-Generalsektretär Kjartan Joahnnsson (rechts) mit seinem Vorgänger Georg Reisch (links) zu den Feierlichkeiten zum 40-jährigen BEstehen der EFTA in Genf. Quelle: REUTERS
Charles de Gaulle Quelle: AP
Premier Harold Wilson Quelle: REUTERS
Margaret Thatcher Quelle: AP
1990Die EG-Länder beschließen im Schengener Abkommen die Aufhebung der Passkontrollen an den Binnengrenzen. Großbritannien macht nicht mit. Quelle: AP
John Major, ehemaliger Premier Großbritanniens Quelle: REUTERS
Premier Tony Blair Quelle: AP

Alles in dem Konferenzraum wirkt modern und aufgeschlossen, an der Wand hängt eine Weltkarte aus grauem Stahl, die Skulptur in der Ecke zeigt die Innenansicht einer Festplatte. So residiert ein Fintech-Unternehmen, das im Internet die Banken attackiert, im Londoner Edelviertel Mayfair. Aber dessen Chef will nicht darüber reden, wie die Welt immer mehr zusammenrückt, er hat vielmehr Angst vor neuen Gräben, vor diesem Schlagwort, das er beinahe ängstlich ausspricht: „Brexit“. Der drohende Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. „Viele meiner Freunde sind nun dafür“, sagt der promovierte Mathematiker, „dabei wäre das doch eine Katastrophe für uns.“

Die Erfahrung des erfolgreichen Unternehmers zeigt: Es ist längst hip geworden in Großbritannien, gegen Europa zu sein. Das ist die vielleicht beängstigendste Diagnose in der Woche, da der offizielle Countdown zum Referendum über den Verbleib des Landes in der EU begonnen hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Briten es am 23. Juni den Niederländern gleichtun, die in ihrem Ukraine-Referendum gerade mehrheitlich vor allem gegen Europa votierten, nimmt stetig zu. Laut neuen Umfragen liegt das Lager der EU-Gegner mit drei Prozentpunkten vorn – und die Zahl der Unentschlossenen ist noch immer sehr hoch.

Damit konkretisiert sich das Schreckgespenst eines Austritts, der ein Erdbeben für Großbritannien wäre, dessen Schockwellen aber ganz Europa erfassen würden. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU wäre auf einen Schlag nicht mehr dabei, die Briten könnten nicht länger als Korrektiv einer Union dienen, in der sich viele Mitgliedstaaten von der Marktwirtschaft abwenden.

Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa

Wie konnte es dazu kommen? Für den Fintech-Unternehmer hat die britische Politik versagt: „Sie hat bislang dem Bürger eine zentrale Frage nicht beantwortet: Welchen Nutzen ziehe ich eigentlich in Zukunft aus der EU-Mitgliedschaft?“ Dabei werden die Briten derzeit mit einer Flut von Argumenten, Statistiken und ökonomischen Analysen eingedeckt, die alle an ihre wirtschaftliche Vernunft appellieren. Aber die Europa-Gegner dringen direkter ins Herz der Bürger vor, etwa mit dem Verweis auf die drohende Schließung der Stahlhütten im walisischen Port Talbot.

Zwar war es die britische Regierung und nicht die EU, die Anti-Dumping-Zölle gegen chinesische Stahlimporte verhinderte und damit das Aus für heimischen Stahl in Kauf nahm. Doch das wissen die wenigsten Briten. Sie schimpfen, dass ihr Premier David Cameron die Branche nicht einfach retten konnte, ohne mit EU-Subventionsverboten in Konflikt zu geraten. „Globalisierung ist aufregend, wenn man oben schwimmt. Sie ist bedrohlicher, wenn Stahl deinen Lebensunterhalt ausmacht“, stichelte die konservative Kommentatorin Isabel Hardman.

Cameron, Vorkämpfer der Europa-Befürworter, wirkt zudem erheblich geschwächt, seit er nach tagelangem Lavieren einräumen musste, bis 2010 Anteile an einer Briefkastenfirma besessen zu haben. Die Affäre um die Panama Papers verstärkte bei vielen Briten einen Eindruck, den sie seit der Weltfinanzkrise hegen und in der sozial gespaltenen Metropole London täglich besichtigen können – dass die kleinen Leute für die Folgen der Krise bezahlen mussten, während die Reichen ihr Vermögen in Sicherheit brachten.

Zu dem Gefühl trug auch die Ankündigung von Finanzminister George Osborne bei, die Sozialhilfe für britische Behinderte zu kürzen, während Besserverdienern Steuererleichterungen in Aussicht gestellt wurden. Osborne, wie Cameron Spross einer privilegierten Familie, ruderte zwar angesichts der Proteste zurück. Doch das Problem bleibt: Es sind überwiegend die unpopulären Eliten, die den Verbleib in der Union propagieren.

Abspaltungsanhänger können mehr charismatische Figuren vorweisen

Zahlreiche EU-Gegner gehören dagegen unteren Einkommensschichten an. Viele von ihnen fühlen sich vom Zustrom osteuropäischer Einwanderer bedroht. Eine Studie der Oxford University zeigt: Die Zahl der EU-Ausländer im Land ist in den vergangenen fünf Jahren um knapp 700.000 auf 3,3 Millionen gestiegen. Dabei hatte der Premier versprochen, die Immigration radikal einzuschränken. Doch die von ihm erreichte vierjährige Blockade von Sozialleistungen für Neuzuwanderer wird die Zuwanderung nicht stoppen, zumal der gerade auf neun Euro erhöhte Mindestlohn Großbritannien für Osteuropäer noch attraktiver machen dürfte.

Britische EU-Befürworter – etwa Unternehmensverbände, international tätige Konzerne und Banken – können zudem kaum charismatische Figuren vorweisen, ganz anders als das Lager der Abspaltungsanhänger. Dort hat der schillernde Londoner Bürgermeister Boris Johnson neuen Schwung in die „Leave“-Kampagne gebracht. Auch Johnson kann zwar nicht schlüssig erklären, wie die Briten nach einem Austritt – und dem Abschied von der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit – weiter vollen Zugang zum europäischen Binnenmarkt erhalten sollen. Aber mit seinen Anti-Europa-Auftritten ist Johnson, der selbst Premier werden will, zu Camerons gefährlichstem Gegenspieler geworden.

Mittlerweile rechnen sogar die Devisenmärkte ernsthaft mit einem Brexit: Gegenüber dem Dollar ist das Pfund auf den tiefsten Stand seit Anfang 2009 gefallen, auch im Vergleich zum Euro ist es so schwach wie seit fast zwei Jahren nicht mehr. Dazu trägt die Sorge bei, das britische „twin deficit“ – hohes Haushaltsdefizit und eine Lücke in der Leistungsbilanz – könne nach einem Brexit bedrohlicher werden.

Was die Briten an der EU stört
Nationale IdentitätAls ehemalige Weltmacht ist Großbritanniens Politik noch immer auf Führung ausgelegt. London ist gewohnt, die Linie vorzugeben, statt sich mühsam auf die Suche nach Kompromissen zu begeben. „London denkt viel mehr global als europäisch“, sagt Katinka Barysch, Chefökonomin beim Centre for European Reform in London. Die Angst, von EU-Partnern aus dem Süden Europas noch tiefer in die ohnehin schon tiefe Krise gezogen zu werden, schürt zusätzliche Aversionen. Quelle: dpa
Finanztransaktionssteuer und Co.Die Londoner City ist trotz massiven Schrumpfkurses noch immer die Lebensader der britischen Wirtschaft. Großbritannien fühlt sich von Regulierungen, die in Brüssel ersonnen wurden, aber die City treffen, regelrecht bedroht. „Regulierungen etwa für Hedgefonds oder die Finanztransaktionssteuer treffen London viel mehr als jeden anderen in Europa“, sagt Barysch. Allerdings hatte die Londoner City in der Finanzkrise auch mehr Schaden angerichtet als andere Finanzplätze. Quelle: dpa
Regulierungen des ArbeitsmarktsGroßbritannien ist eines der am meisten deregulierten Länder Europas. Strenge Auflagen aus Brüssel, etwa bei Arbeitszeitvorgaben, stoßen auf wenig Verständnis auf der Insel. „Lasst uns so hart arbeiten wie wir wollen“, heißt es aus konservativen Kreisen. Quelle: dapd
EU-BürokratieDie Euroskeptiker unter den Briten halten die Bürokratie in Brüssel für ein wesentliches Wachstumshemmnis. Anti-Europäer in London glauben, dass Großbritannien bilaterale Handelsabkommen mit aufstrebenden Handelspartnern in aller Welt viel schneller aushandeln könne als der Block der 27. Die Euroskeptiker fordern auch, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg (hier im Bild) abgeschafft wird und die Abgeordneten nur noch in Brüssel tagen. Quelle: dpa
MedienDie britische Presse ist fast durchgehend europafeindlich und prägt das Bild der EU auf der Insel. Das hat auch politische Wirkung. „Ich muss meinen Kollegen in Brüssel dauernd sagen, sie sollen nicht den 'Daily Express' lesen“, zitiert die „Financial Times“ einen britischen Minister. Quelle: dpa

Generell kommen Studien zu dem Ergebnis, dass die kurzfristigen Ergebnisse eines Austritts negativ für die britische Wirtschaft sein dürften – die langfristigen Konsequenzen werden davon abhängen, ob und welche Abkommen Großbritannien mit seinen wichtigsten Handelspartnern aushandeln kann. Doch gibt es kaum Zweifel an den Risiken: Der Internationale Währungsfonds (IWF) sieht in einem möglichen Abschied Großbritanniens von der EU sogar eine erhebliche Bedrohung für die globale wirtschaftliche Stabilität.

Die britische Denkfabrik Oxford Economics rechnet mit einem Rückgang des britischen Bruttoinlandsproduktes von knapp vier Prozent, die Wirtschaftsprüfergesellschaft PwC gar mit einem Minus von über fünf Prozent. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) meint: „Die Vorteile der ökonomischen Verzahnung zwischen Großbritannien und der EU werden oft nur unzureichend erfasst.“ Im schlimmsten Fall könne die britische Wirtschaftsleistung um zehn Prozent oder mehr einbrechen, so das Fazit der IW-Forscher.

Schon jetzt macht sich die Ungewissheit über das bevorstehende EU-Referendum negativ bemerkbar, der IWF hat seine Wachstumsprognose für Großbritannien im laufenden Jahr – selbst ohne Brexit – um 0,3 Prozentpunkte gesenkt.

Es könnte zudem ein gutes Jahrzehnt dauern, bis die Briten nach einem Brexit-Votum ihr Verhältnis zu den europäischen Staaten und der restlichen Welt neu geregelt haben. Offiziell sind im EU-Vertrag von Lissabon dafür lediglich zwei Jahre vorgesehen, doch das wird nach Ansicht von Experten kaum genügen. „Die britische Wirtschaft ist stärker von der EU abhängig als umgekehrt“, sagt IW-Ökonom Berthold Busch. Bei Verhandlungen über neue Handelsabkommen könnten die Briten daher den Kürzeren ziehen. Damit droht der einstigen Weltmacht nicht nur ein verlorenes wirtschaftliches Jahrzehnt, sondern der dauerhafte globale Abstieg.

Termin für Gipfel verschoben

Und Europa? Noch am Abend des Referendums in den Niederlanden begann EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mit Telefondiplomatie. Er beriet sich mit dem niederländischen Premierminister Mark Rutte und dem italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi. Am Morgen danach erörterte Juncker das niederländische „Nee“ mit Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Nach außen hin will der Kommissionspräsident das Votum der Niederländer als Einzelfall darstellen, ohne Auswirkungen auf das britische Referendum. Aber in Brüssel wissen alle, dass der nächste reguläre EU-Gipfel im Juni zum Krisengipfel werden kann. Gerade erst wurde der Termin um fünf Tage nach hinten geschoben. Damit Cameron am Tag des Referendums in Großbritannien sein kann – und die Staats- und Regierungschefs reagieren könnten, falls die Briten für einen Austritt stimmen.

Juncker weiß, wie wenig er dagegen ausrichten kann. „Die Entscheidung liegt nicht in unserer Hand“, sagt ein hoher EU-Beamter. Die Kommission ist von ihrem Plan abgerückt, hochrangige Mitglieder nach Großbritannien zu schicken, um für einen Verbleib zu werben. Solche öffentlichen Belehrungen würden eher schaden, so offenbar der Eindruck.

Jo Leinen, SPD-Mitglied des Europaparlaments, sagt: „Referenden über europäische Themen sind russisches Roulette.“ Es gebe keine Garantie, dass Debatten ernsthaft geführt würden, stattdessen dienten die Abstimmungen als Ventile für die unterschiedlichsten Arten von Frustrationen.

Lange schloss Leinen ein Nein der Briten aus, doch seine Einschätzung änderte sich, als Londons Bürgermeister Johnson aus parteitaktischen Gründen auf die Seite der Gegner wechselte. „Das war für mich ein Déjà-vu-Erlebnis“, sagt der Sozialdemokrat und verweist auf Frankreich, wo 2005 beim Referendum über eine EU-Verfassung Expremier Laurent Fabius für ein Nein kämpfte, um sich in der sozialistischen Partei zu profilieren.

„Solche innerparteilichen Spiele auf dem Rücken Europas sind brandgefährlich“, kritisiert Leinen. Doch der Politveteran, seit 17 Jahren im europäischen Parlament, weiß auch, dass der Rest Europas in eine Zuschauerrolle gedrängt ist. „Wir haben wenig Möglichkeiten, in die Debatte einzugreifen“, sagt Leinen. „Wir sind Geiseln.“

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