Großbritannien „Wir lassen uns von der EU nicht die Bedingungen diktieren“

Patrick Minford Quelle: REUTERS

Der britische Ökonom und Brexit-Hardliner Patrick Minford ist überzeugt: Ein Austritt Großbritanniens aus dem Binnenmarkt ohne Abkommen schadet der EU mehr als dem Königreich. Der britischen Regierung empfiehlt er, auf freien Handel und niedrige Steuern zu setzen.

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Patrick Minford ist Ökonomieprofessor an der Universität von Cardiff. Als führender Kopf der „Economists For Free Trade“, einer Gruppe marktwirtschaftlicher Freihändler, plädiert er für eine radikale Trennung Großbritanniens von der EU. In den Achtzigerjahren unterstützte er die markwirtschaftliche Reformpolitik von Margaret Thatcher.

WirtschaftsWoche: Professor Minford, die EU-Kommission und die Regierung Großbritanniens verhandeln derzeit über ihre künftigen Beziehungen nach der Brexit-Übergangszeit, die Ende des Jahres ausläuft. Wird es einen Kompromiss geben oder müssen wir uns auf einen harten Brexit einstellen?
Patrick Minford: Die Regierung von Boris Johnson ist fest entschlossen, die Übergangsphase Ende des Jahres auslaufen zu lassen. Anders als mancher Brexit-Gegner hofft, wird er keinen Antrag auf Verlängerung der Übergangsphase stellen. Für Johnson wäre das politischer Selbstmord. Entweder die EU einigt sich mit Großbritannien bis Ende des Jahres auf einen künftigen Modus Vivendi oder das Königreich scheidet ohne Abkommen aus. In diesem Fall läge der Schaden vor allem bei der EU.

Wäre der Schaden nicht eher auf Seiten Großbritanniens? Immerhin ist die EU der größte Absatzmarkt für britische Exporteure.
Entscheidend für den Wohlstand in Großbritannien ist nicht, dass wir Teil des sich gegenüber dem Rest der Welt abschottenden EU-Binnenmarktes sind, sondern dass wir freien Handel mit möglichst vielen Ländern der Welt betreiben. Wenn es kein Abkommen gibt, werden die EU und Großbritannien im bilateralen Handel Zölle erheben. Im Gegensatz zur EU wird Großbritannien gegenüber dem Rest der Welt aber weitestgehend auf Zölle verzichten. Das verschärft den Wettbewerb in Großbritannien und drückt die Preise.

Die britischen Anbieter werden also wettbewerbsfähiger?
Ja, die Außenzölle der EU können ihnen dadurch nicht mehr viel anhaben. Die niedrigeren Preise, zu denen sie ihre Güter anbieten, gleichen den Zoll aus. Anders sieht es für die Exporteure der EU aus. Sie werden weiterhin durch den gemeinsamen Außenzolltarif der EU geschützt, was den Druck zu Kosten- und Preissenkungen schmälert. Das macht es ihnen schwer, auf dem britischen Markt zu bestehen, zumal ihre Waren durch den britischen Zoll verteuert werden. Sollte es kein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien geben, wird die EU den größeren Schaden davontragen.

Ein Ausstieg Großbritanniens aus dem Binnenmarkt ohne Abkommen könnte den britischen Finanzsektor in Mitleidenschaft ziehen.
Warum sollte das der Fall sein? Die Probleme liegen eher auf Seiten der EU. Die Coronakrise wird die Anzahl fauler Kredite in den Bankbilanzen im Süden Europas, wo man schon bisher unter Problemkrediten litt, weiter in die Höhe treiben. Die Banken dort sind daher auf die Unterstützung durch die EZB angewiesen. Die deutschen Verfassungsrichter aber haben mit ihrem jüngsten Urteil den Anleihekäufen der EZB Grenzen gesetzt. Dagegen kann die Bank von England ungehindert das gesamte geldpolitische Instrumentarium zum Einsatz bringen, wenn es nötig sein sollte. Die EU kann daher kein Interesse daran haben, dass es zu neuen Unruhen an den Finanzmärkten kommt, wenn Großbritannien ohne Abkommen aus dem Binnenmarkt ausscheidet.

Im Mittelpunkt des aktuellen Streits zwischen der EU und Großbritannien stehen Regulierungsstandards, etwa im Bereich von Umwelt, Arbeitsmarkt, staatlichen Beihilfen und Steuern. Die Briten sträuben sich, die EU-Standards einzuhalten.
Vorsicht. Ginge es nur um die aktuellen Standards und Regulierungen, hätten wir kein Problem. Denn Großbritannien hat kein Interesse, im Umweltbereich, bei staatlichen Hilfen oder in der Wettbewerbspolitik die gültigen EU-Standards zu unterlaufen. Im Gegenteil. Die Regierung in London betreibt eine umweltfreundliche Politik, zudem gelten in Großbritannien hohe Standards für Arbeitsbedingungen und Wettbewerb.

Wird Großbritannien zur Steueroase vor den Toren der EU?

Warum dann der Streit?
Brüssel will, dass Großbritannien auch in Zukunft alle EU-Standards übernimmt, die Brüssel setzt. Dazu sind die Briten nicht bereit. Wir haben uns unsere Souveränität nicht zurück erkämpft, um sie im Schlepptau von Regulierungsvorgaben aus Brüssel in Zukunft wieder zu verlieren. Kein Land mit einer souveränen Regierung kann sich von einer fremden Instanz vorschreiben lassen, wie es Politik gestalten soll. Das gilt im Übrigen auch für die Fischereirechte, die ein weiterer Streitpunkt in den Verhandlungen sind. Ein Abkommen mit Brüssel in diesem Bereich ist durchaus möglich. Aber Großbritannien muss die Bedingungen festlegen können, zu denen Fischer aus anderen EU-Ländern in britischen Gewässern fischen dürfen. Wenn Brüssel darauf besteht, dass sich Großbritannien künftig allen Regulierungsvorgaben der EU fügt, wird es kein Abkommen geben.

Die britischen Exporteure werden darüber nicht begeistert sein. Sie drängen auf ein Abkommen.  
Politik sollte sich nicht an den Interessen einzelner Branchen und Unternehmen ausrichten. Das Ziel einer Regierung muss sein, den Wohlstand einer möglichst großen Anzahl von Bürgern zu erhöhen. Freier Handel dient diesem Ziel. Er erhöht die Vielfalt des Güterangebots und dämpft die Preise. Davon profitieren alle Bürger. Das ist wichtiger als die Marktanteile der britischen Exporteure im EU-Binnenmarkt abzusichern.

Wird Großbritannien in Zukunft zu einem Niedrigsteuerstandort, einer Steueroase vor den Toren der EU?
Die Corona-Krise treibt das britische Haushaltsdefizit und die Staatsschulden nach oben. Das schmälert den Spielraum für rasche Steuersenkungen. Allerdings muss die britische Wirtschaft wachsen, um die Schuldenquote wieder auf ein tragfähiges Niveau zurückzuführen. Die Regierung in London wird daher alles daransetzen, die Standortbedingungen zu verbessern. Dazu gehören auch möglichst niedrige Steuern...

...mit denen London Unternehmen aus der EU nach Großbritannien lockt.
Wettbewerb ist nichts Schädliches, auch nicht bei Steuern. Wenn die britische Wirtschaft wegen niedrigerer Steuern wächst, profitiert davon auch die EU. Einerseits, weil die Briten dann mehr Produkte vom Kontinent nachfragen. Andererseits, weil niedrigere Steuern die Regierungen in der EU unter Druck setzen, ebenfalls die Steuern zu senken. Das stärkt die Wachstumskräfte in der EU. Wer behauptet, Steuer- und Standortwettbewerb seien schädlich, hält Wirtschaft offenbar für ein Nullsummenspiel. Nach dem Motto: Was die Briten gewinnen, verliert die EU. Das ist Unsinn. Steuerwettbewerb stärkt die Wachstumskräfte auf allen Seiten.

Wenn Großbritannien außerhalb der EU prosperiert, könnten andere Länder folgen und der EU ebenfalls den Rücken kehren.
Das halte ich für wenig wahrscheinlich. Schauen Sie nach Italien, Spanien und Portugal. Dort genießt die EU hohes Ansehen. Die Menschen betrachten die EU-Kommission als eine Art Korrektiv für ihre heimische Regierung, der sie wenig Vertrauen entgegenbringen.

Wird sich die EU ohne Großbritannien zu einem europäischen Bundesstaat mit eigener Fiskalsouveränität entwickeln?
Eine solche Entwicklung würde vermutlich die Überlebensfähigkeit des Euros erhöhen. Denn das Konstrukt der gemeinsamen Währung leidet darunter, dass es in der Eurozone keine gemeinsame Fiskalpolitik gibt. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine supranationale Instanz die Fiskalpolitik übernimmt, gering. Deutschland und die meisten anderen Nationalstaaten in der EU sind nicht bereit, ihre finanzpolitische Autonomie aufzugeben.

Wird Großbritannien der EU je wieder beitreten?
Dafür sehe ich zumindest für die Dauer einer Generation keine Chance. Der Wunsch nach einem neuerlichen Referendum ist gering. Und die Johnson-Regierung genießt hohe Popularität. Hinzu kommt: Bei einer erneuten Bewerbung für die EU-Mitgliedschaft wird Brüssel wohl verlangen, dass die Briten auf Beitragsrabatte verzichten und sich verpflichten, dem Euro beizutreten. Dafür aber gibt es keine Mehrheit in der britischen Bevölkerung.

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