
Er will mehr. Jean-Claude Juncker, Kommissionspräsident und zuvor als luxemburgischer Ministerpräsident dienstältester Regierungschef des Kontinents, zeigte sich in seiner Rede zur Lage der Europäischen Union mal wieder ganz als Europapolitiker der alten Schule. Als Exponent einer europäischen Politik, die das Heil der Europäer stets in einem gewaltigen „Mehr“ erblickt.
Die EU befinde sich in einer „existentiellen Krise“, stellt Juncker fest – niemand wird ihm da widersprechen. Ärzte und ihre Patienten stehen bei schwerwiegenden Erkrankungen meist vor einer grundlegenden Entscheidung: Ändert man die Behandlungsmethode (und gesteht damit ein, bislang auf dem Holzweg gewesen zu sein)? Setzt man bislang wirkungslos gebliebene Medikamente ab und versucht andere? Oder erhöht man die Dosis der bisherigen? Juncker ist der Mann des „More of the same“ – mehr von dem, was wir schon kennen. Das ist, wie der Fraktionsführer der britischen Konservativen im EU-Parlament, Syed Kamall, in der anschließenden Debatte treffend feststellte, Junckers „Mantra“.
Juncker will mehr Union
Wie sollte es auch anders sein. Ein Mann, der schon mit EU-Titanen wie Helmut Kohl den „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ von 1997 aushandelte und zuvor als Finanzminister den Maastricht-Vertrag mit prägte, kann keine andere Antwort geben, wenn er sich nicht selbst verraten will.
Die fünf großen Baustellen der EU
Die Folgen des globalen Finanzbebens 2008 spalten Europa bis heute - wirtschaftlich und politisch. Während europäische Statistiker für Deutschland zuletzt auf 4,2 Prozent Arbeitslosigkeit kamen, waren es für Griechenland 23,5 Prozent. Das überschuldete Land will finanzielle Freiräume, um die Wirtschaft anzukurbeln. Bei einem Südgipfel holte sich Athen jetzt Rückendeckung von Italien und Frankreich. Nicht nur deutsche EU-Politiker fordern strikte Sparsamkeit und reagieren gereizt. Aber auch Österreichs Bundeskanzler Christian Kern meint, der Sparkurs sei die eigentliche Ursache für die zunehmend antieuropäische Stimmung.
Der Zustrom von Hunderttausenden reibt die Gemeinschaft politisch auf. Hier verlaufen die Risse nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch zwischen Ost und West. Beschlossen ist eine Verteilung von bis zu 160.000 Asylsuchenden aus den Anlandestaaten Italien und Griechenland in der EU. Erledigt waren aber bis Juli gerade einmal gut 3000 Fälle - 2213 Schutzsuchende aus Griechenland und 843 weitere aus Italien.
Die EU-Kommission drängelt, doch vor allem die Visegrad-Staaten Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen weigern sich. Stattdessen verlangen sie schärferen Grenzschutz. Das trieb nun offenbar Asselborn zu seiner Breitseite gegen die Regierung in Budapest. „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“, sagte Asselborn der „Welt“ (Dienstag). Die Grenzzäune würden immer höher. „Ungarn ist nicht mehr weit weg vom Schießbefehl gegen Flüchtlinge.“
Die islamistischen Anschläge in Frankreich, Belgien und zuletzt auch in Deutschland haben Lücken bei Absprachen und Austausch offenbart. Die Verunsicherung ist groß, die Forderung nach einer engeren Zusammenarbeit laut. Und es gibt Querverbindungen zum Flüchtlingsstreit: Vor allem nach den Anschlägen eines mutmaßlichen Afghanen in Würzburg und eines Syrers in Ansbach im Juli sehen sich die Gegner eines großzügigen Asyls bestätigt. EU-Ratspräsident Donald Tusk fordert jetzt eine lückenlose Erfassung aller, die in die EU einreisen.
Die vielfältigen Krisen schwelen seit langem, doch es war das Votum der Briten für ein Ausscheiden aus der EU vom 23. Juni, das daraus eine Existenzkrise für die Union machte. Wird der Ausstieg tatsächlich vollzogen, verliert die Gemeinschaft ihre drittgrößte Wirtschaftskraft, den zweitgrößte Nettozahler und ein diplomatisches Schwergewicht im UN-Sicherheitsrat. Sie wird also kleiner und schwächer. Vor allem aber macht der Schritt EU-Gegnern allerorten Mut, auch in den Gründerstaaten Niederlande, Frankreich und Italien. Denn bei allen Sollbruchstellen scheint die EU fast gespenstisch geeint in populistischer Feindseligkeit gegen Brüssel.
Die simple These, die Eurokraten seien verantwortlich für alles Übel auf dem Kontinent, überdeckt einen Machtkampf der Institutionen: Was darf die EU-Kommission bestimmen? Wie viel Einfluss hat das Parlament? Und worüber entscheiden allein die Einzelstaaten? Über möglichst viel, meinen die Osteuropäer. Die Kommission solle sich zurückhalten, denn die „wirkliche Legitimität“ liege bei den Mitgliedsländern und Parlamenten, sagt Tschechiens Regierungschef Bohuslav Sobotka. Wie nervös die EU-Exekutive ist, zeigt der Streit um die Abschaffung der Roaming-Gebühren: Nach Murren aus Parlament und Mitgliedstaaten kassierte Kommissionspräsident Juncker flugs den Plan, die Streichung der Zusatzgebühren für Handytelefonate im EU-Ausland auf 90 Tage zu befristen.
Also mehr! Mehr europäische Investitionen für mehr Wachstum und weniger Arbeitslosigkeit zum Beispiel. Juncker will den im vergangenen Jahr gegründeten und oft schlicht „Juncker-Plan“ genannten „Europäischen Fonds für strategische Investitionen“ (EFSI), der den südeuropäischen Krisenländern zugutekommen soll, auf 630 Milliarden Euro verdoppeln und über 2018 hinaus seine Laufzeit um drei weitere Jahre verlängern.
Vor allem aber will Juncker mehr Union, mehr Integration, mehr gemeinsame Sozialgesetzgebung, mehr gemeinsame Verteidigung. "Wir brauchen viel mehr Solidarität“ appellierte Juncker mit Blick auf die nicht mal ansatzweise gelungene Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der Union, wobei er das Eingeständnis des Scheiterns gleich mitlieferte. Solidarität könne man nicht erzwingen, sie müsse von Herzen kommen.
Junge Menschen sollen sich in "Solidaritätskorps" engagieren
Es gehe den Mitgliedsstaaten zu häufig um nationale Interessen, klagte Juncker. Er dagegen wolle mit der Kommission eine „positive Agenda“ von Gemeinschaftsaktionen in den kommenden zwölf Monaten präsentieren. Zu dieser gehört auch: neue Institutionen schaffen. Zum Beispiel ein „Solidaritätskorps“, in dem sich junge Menschen freiwillig engagieren könnten, um in Krisenfällen europaweit zu helfen.
Wie Juncker der EU neuen Schwung geben will
Das von Juncker 2014 angeschobene Investitionsprogramm soll verdoppelt werden, sowohl in der Summe als auch in der Dauer. Statt bisher 315 Milliarden Euro an Investitionen in Projekte wie Straßen, Netze oder Energieversorgung in drei Jahren anzuschieben, ist die neue Zielmarke nun also 630 Milliarden binnen sechs Jahren. Ein kleiner Teil der Riesensumme sind öffentliche Garantien - bisher 21 Milliarden. Ein Teil der neuen Summe soll aus dem EU-Haushalt kommen, ein Teil von den Mitgliedstaaten.
Neue Jobs erhofft sich Juncker auch vom Freihandel - auch vom umstrittenen Abkommen Ceta mit Kanada - und von der Digitalisierung. Seine Zielmarken: Bis 2020 freies WLAN an öffentlichen Plätzen, bis 2025 superschnelles mobiles Internet 5G in ganz Europa. Gegen Jugendarbeitslosigkeit will er die EU Jugendgarantie weiter führen, die junge Leute für den Arbeitsmarkt fit machen soll. Außerdem will Juncker ein „Europäisches Solidaritätskorps“: Freiwillige sollen im Krisenfall helfen, etwa nach Erdbeben wie jetzt in Italien. Bis 2020 hofft Juncker auf 100 000 Teilnehmer.
Auf die unkontrollierte Einreise von Hunderttausenden im vergangenen Jahr soll die EU nach Junckers Vorstellungen mit Schutzvorkehrungen reagieren. So soll der Aufbau eines europäischen Grenz- und Küstenschutzes vorangebracht werden, und zwar ganz konkret schon im Oktober. Dann sollen etwa 50 zusätzliche Fahrzeuge und 200 Grenzschützer bei der Sicherung der bulgarischen Grenze zur Türkei helfen. Darüber hinaus will Juncker analog zum Esta-System in den USA ein Registrierverfahren namens Etias (European Travel Information System) für die EU aufbauen. Einreisende müssten sich vorab registrieren, damit ihre Daten mit Sicherheits- und Terrordatenbanken abgeglichen werden können. Nationale Datenbanken zu Terrorverdächtigen sollen zusammengeführt und Europol gestärkt werden.
Neue Initiativen zum Flüchtlings- und Asylrecht in der EU plant die Kommission nicht, da sie bereits im Sommer ein umfangreiches Paket vorgeschlagen hat und nun um Zustimmung der Mitgliedsstaaten und des Parlaments buhlen muss. Sie will aber, wie bereits angekündigt, den Herkunftsstaaten helfen, damit weniger Menschen ihr Glück in Europa suchen. Ein „Investment Plan for Africa and the Neighborhood“ soll Investitionen von 44 bis 88 Milliarden Euro ermöglichen.
Die Verteidigungszusammenarbeit der EU-Staaten soll enger werden. Unter anderem soll ein gemeinsames Hauptquartier für EU-Missionen entstehen. Zudem soll Rüstung möglichst gemeinsam beschafft werden, was nach Schätzungen bis zu 100 Milliarden Euro pro Jahr sparen soll. Da die Militärunion politisch für einige Länder ein heißes Eisen ist, soll sie womöglich zunächst mit einem kleinen Kreis von interessierten EU-Staaten beginnen. Insgesamt wünscht sich Juncker eine stärkere gemeinsame Außenpolitik. Die Außenbeauftragte Federica Mogherini solle „unsere europäische Außenministerin“ werden. Konkret schlug er eine Europäische Strategie für Syrien vor. Mogherini solle an Verhandlungen über die Zukunft Syriens direkt beteiligt werden.
Dass Juncker in seiner Rede auf keine der üblichen Zutaten europäischer Grundsatzreden verzichtete, ist wenig überraschend: Der Rekurs auf die Gründungsgeschichte als Friedensstiftung, die Erinnerung an die Aufnahme und ökonomische Stabilisierung vormals autoritär regierter Mittelmeerländer und ehemals kommunistisch beherrschter Länder fehlte ebenso wenig wie die Beschwörung von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.