Herr Professor Enderlein, die Regierungschefs Macron und Merkel wollen in Aachen einen neuen deutsch-französischen Kooperationsvertrag unterschreiben, quasi eine Fortschreibung des einstigen Elysee-Vertrages. Ist das ein weiterer Meilenstein für Europa?
Der Aachener Vertrag ist eher von symbolischer Kraft als von praktischem Wert. Wenn man sich die einzelnen Vertragspunkte anschaut, findet sich eigentlich nichts wirklich neues oder bahnbrechendes. Es ist die Zusammenfassung bekannter Bemühungen und meist die Reduzierung auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner.
Was hätten Sie sich im Aachener Vertrag mehr gewünscht?
Man hätte sich zum Beispiel ambitionierte aber konkrete Ziele setzen sollen, um den deutsch-französischen Wirtschaftsraum weiter zu entwickeln. Warum keine Aufforderung, wortgleiche Gesetze für grenzüberschreitende Herausforderungen wie Digitalisierung, Datenschutz oder auch die ethischen Aspekte Künstlicher Intelligenz zu formulieren? Warum gibt es noch immer Unterschiede bei der Zulassung von Medikamenten? Wo ist das Ziel eines gemeinsam regulierten Energiemarkts? Wo ist der gemeinsame Ansatz auf dem Weg zu erneuerbaren Energien? Deutschland und Frankreich sind erst dann ein gemeinsamer Wirtschaftsraum und ein gemeinsamer Markt, wenn auch die rechtlichen und regulatorischen Grenzen kaum noch spürbar sind. Solche Ziele hätte der Vertrag ehrgeizig formulieren können, um die Politik an klare Versprechen zu binden.
Immerhin bekräftigen beide Staaten ihren Willen für eine gemeinsame Besteuerung von Unternehmen.
Bei der gemeinsamen konsolidierten Körperschaftsteuerbemessungsgrundlage rollen viele Leute doch nur noch genervt mit den Augen. Seit zwei Jahrzehnten treffen sich Experten und nichts tut sich. Dabei geht es hier einfach darum, gemeinsame Abschreibungsbedingungen oder Definitionen von Gewinnen und Verlusten zu erarbeiten. Da sind wir noch gar nicht bei der eigentlichen Besteuerung! Unendlich zäh ist auch das Thema einer gemeinsamen Beschaffung von Rüstungsgütern. Da tut sich sehr wenig, obwohl viele Milliarden Euro an Effizienzgewinnen durch eine engere Kooperation garantiert wären, von einer notwendigen Standardisierung im Militärbereich ganz zu schweigen.
Und der Aachener Vertrag bringt uns hier nicht weiter?
Der Vertrag enthält vor allem vage formulierte Absichtserklärungen. Das ist nicht schlecht, aber unterambitioniert. Der Vorgängervertrag von 1963, der Elysee-Vertrag, war ein historischer Referenzpunkt, nicht nur weil er die Aussöhnung zweier sich damals noch oft fremden Völker vorbereitete, sondern weil er eine gemeinsame Vision präzise formulierte. Elysee-Vertrag machte das Undenkbare qua Unterschrift der Staatschefs zu einer konkreten politischen Aufgabe. Der heutige Vertrag hätte das auch tun sollen, allerdings aus der Perspektive von 2019. Ganz im Ernst: Welcher Historiker wird in 50 Jahren auf den Aachener Vertrag zurückschauen und ihn als Meilenstein bezeichnen?
Vielleicht braucht es ja keiner großen Würfe mehr in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten.
Das wäre ein großer Irrtum. Wir brauchen dringend eine Vertiefung der politischen Zusammenarbeit und eine echte Verschränkung der beiden Volkswirtschaften. Ansonsten befürchte ich eine schleichende Entfremdung zwischen Deutschland und Frankreich, unter der dann auch Europa leiden würde. Deutschland und Frankreich waren immer stark auf dem roten Teppich. Aber reine Symbolpolitik reicht heute eben nicht mehr.
Henrik Enderlein ist Professor für Politische Ökonomie und Präsident der Hertie School of Governance in Berlin sowie Director des Jacques Delors Instituts in Berlin.