Herfried Münkler "Wir sind die Gegenstimme des Leichtsinns"

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Rettung des europäischen Projekts

Herfried Münkler mit einer Büste Friedrich des Großen Quelle: Max Lautenschläger für WirtschaftsWoche

Uns Deutschen mag dieser Preußen-Mythos ja recht gut gefallen. In Europa hingegen ist die Meinung verbreitet, dass Merkel es mit ihrem Willen zu Disziplin und Züchtigung ein wenig übertreibt.

Die Rolle Deutschlands in der EU war lange unpreußisch. Wir waren Zahlmeister und haben uns dadurch Reputierlichkeit zurückgekauft. Wenn es in Europa geknirscht hat, dann hat Helmut Kohl einen Scheck ausgestellt – und die Sache war erledigt. Für unsere Nachbarn war das bequem. Heute bekommt Griechenland die Quittung präsentiert für solche Nachlässigkeiten im Umgang mit Geld. Von daher ist es fast genial, dass wir in Angela Merkel eine Kanzlerin haben, die aus dem Osten stammt. Sie kann glaubwürdig mit der südwestdeutschen Füllhornpolitik brechen, weil sie schon aus biografischen Gründen nicht in der Tradition der Zahlmeister steht…

…und statt dessen als Zuchtmeisterin auftritt. Ruft das bei unseren Nachbarn aber nicht ein ganz anderes Preußenbild in Erinnerung? Das Pickelhauben-Preußen, das Gehorsam predigt und nach einer europäischen Vormachtstellung strebt?

Ich beobachte keine Frontstellung Deutschland versus Europa, sondern eine Teilung des Kontinents, die interessanterweise eine Trennlinie zwischen Norden und Süden ist. Von den Skandinaviern, den Niederländern, auch von den Polen, kriegen wir ja nicht gesagt, dass es mit uns zunehmend unangenehmer würde. Und auch in Frankreich oder Norditalien gibt es Leute, die sagen: Wir müssen uns am deutschen Modell – leistungsbezogene Entlohnung, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit – orientieren. Insofern würde ich sagen: Das Gefühl, die Deutschen seien unangenehm, ist heute vor allem im Club Méditarenée verbreitet.

Der Euro sollte ein Instrument zur Zähmung Deutschlands sein. Heute ist er – in der Hand der Deutschen – vor allem eine Reformpeitsche. Muss Italien wirklich preußisch werden?

Wenn wir „Preußen“ hier in Anführungszeichen setzen, würde ich sagen: Aber gewiss doch! Was denn sonst? Ohne Haushalts- und Ausgabendisziplin wird es nicht gehen. Das, was in der heutigen Europapolitik als „preußisch“ etikettiert werden kann, ist nichts anderes als die Rettung des europäischen Projekts. Es gibt in Europa einen unabweisbaren Zwang, auf „preußische Tugenden“ zurückzugreifen. Oder Europa scheitert.

In Europa würde demnach kein preußischer Weltgeist wehen? Allein die Macht des Faktischen drängt den Kontinent zur Erkenntnis?

Einerseits. Andererseits kommt es darauf an, auf die Macht des Faktischen gut vorbereitet zu sein, das heißt: Die Krise des schuldengetriebenen Lebensgenusses muss Menschen vorfinden, die prinzipiell bereit sind, sich zu ändern. Auf diese Weise kommt Preußen ins Spiel: Offenbar gelingt es uns Deutschen leichter als anderen, an das „Preußische“, so verdünnt es heute auch sein mag, wieder anzuknüpfen – und den Gürtel enger zu schnallen. Insofern ist uns Deutschen die Rolle des Zuchtmeisters zugewiesen: Wir sind die Gegenstimme des Leichtsinns.

Aus Frankreich war zuletzt zu hören, dass wir vor allem zu tüchtig und zu fleißig sind. Unser wirtschaftliche Dominanz und Exportweltmeisterlichkeit seien erdrückend.

Ich finde derlei Vorhaltungen erstaunlich. Schließlich sind die Reformen in Deutschland unter dem Gesichtspunkt der globalen Konkurrenz durchgeführt worden – und ganz gewiss nicht, um Portugiesen oder Süditalienern zu schaden. Es geht darum, Deutschland und Europa im Vergleich zu anderen globalen Wirtschaftsregionen wettbewerbsfähig zu halten. Daran ist nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Eine solche Politik ist nun wirklich alternativlos.

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